Meist ist es mit einem lebensbedrohlichen Zustand verbunden: ein künstliches Koma. Der vergiftete Kremlkritiker Alexej Nawalny lag bis vor wenigen Tagen in einer langen Vollnarkose, auch bei vielen stationär behandelten Corona-Patienten ist das der Fall. Wie aber funktioniert eine Rückholung aus dem Koma-Zustand? Der Mediziner Chefarzt Dr. Konrad Schwarzkopf erklärt den Ablauf.

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Die Schlagzeile ging durch alle Medien: "Alexej Nawalny aus dem Koma erwacht und ansprechbar!" Die Ärzte aus der Berliner Charité hatten zuvor das künstliche Koma des vergifteten Kremlkritikers beendet. Nawalny war am 20. August mutmaßlich Opfer eines Giftanschlages mit einem Nowitschok-Nervenkampfstoff geworden und kurze Zeit später auf Wunsch seiner Familie in die Berliner Charité zur Behandlung geflogen worden.

Dass seine Patienten im künstlichen Koma liegen, ist für Chefarzt Dr. Konrad Schwarzkopf Alltag. Der Mediziner ist Ärztlicher Leiter des Zentrums für Intensiv- und Notfallmedizin im Klinikum Saarbrücken. "Ein künstliches Koma wird – im Gegensatz zu einem durch einen Unfall oder Krankheit induziertes Koma – von uns Ärzten mit Medikamenten eingeleitet und in der Regel auch kontrolliert wieder ausgeleitet", erklärt er. Wie der Prozess des Rückholens abläuft, hänge davon ab, warum ein Patient ins künstliche Koma versetzt wurde.

Wann ist ein künstliches Koma überhaupt notwendig?

"Es gibt verschiedene Ausgangssituationen, die es nötig machen, jemanden in ein künstliches Koma zu versetzen", erläutert Schwarzkopf. Typisch seien vier Szenarien: Primäre und sekundäre Hirnschädigungen, eine extreme Kreislaufinstabilität und die Notwendigkeit zur künstlichen Beatmung.

"Wenn jemand Schädel-Hirnverletzungen hat, will man durch ein künstliches Koma die Folgeschäden im Gehirn minimieren. So kann ein künstliches Koma den Heilungsprozess unmittelbar positiv beeinflussen, weil Stoffwechselvorgänge im Gehirn reduziert werden und verhindert wird, dass Zellen um die beschädigten Zellen anschwellen und nicht mehr funktionsfähig sind", erklärt der Facharzt für Anästhesiologie.

Das sei auch bei einer Herz-Kreislauf-Wiederbelebung der Fall: Weil der durch sie zustande kommende Sauerstoffmangel dem Gehirn schaden könne, versuchen Ärzte durch ein künstliches Koma Folgeschäden zu minimieren.

Warum wurde Nawalny ins künstliche Koma versetzt?

Auch die Eigenreaktionen des Patienten spielen eine Rolle. "Wenn ein Patient extrem kreislaufinstabil ist, versetzen wir ihn in ein künstliches Koma, um einen zusätzlichen Stressfaktor herauszunehmen", beschreibt Experte Schwarzkopf. Denn wenn unwillkürliche Bewegungen oder Schmerzreaktionen aus dem Spiel genommen werden, können die Ärzte die Körperfunktionen des Patienten besser steuern.

Warum aber wurde Nawalny ins Koma versetzt? Schwarzkopf schickt voraus: "Die Substanzklasse Acetylcholinesterase-Hemmer, um die es im Fall Nawalny geht, ist keine einheitliche Gruppe von Substanzen. Es handelt sich um verschiedene Substanzen, die in ihren konkreten Auswirkungen unterschiedlich sind."

Die Kampfstoffe seien in den 1980er und 1990er Jahren in der russischen Militärforschung extrem anwenderorientiert zusammengebaut worden – manche seien temperaturabhängig wirksam, andere gut mit Wasser abwaschbar.

"Meinem Kenntnisstand nach ist nicht bekanntgegeben worden, welche Einzelsubstanz aus der Novichokgruppe genau zum Einsatz gekommen ist", kommentiert Schwarzkopf.

Auch Corona-Patienten im künstlichen Koma

Die Beurteilung, warum genau Nawalny ins künstliche Koma versetzt wurde, sei aus der Ferne nicht möglich. Wahrscheinlich ist aber: "Die Substanzen wirken grundsätzlich auf verschiedene Organe im Körper, vor allem auf das Nervensystem. Weil jede Zelle von Nerven erreicht wird und die Substanz in Stoffwechselvorgänge in Nervenzellen eingreift, erreicht sie dadurch die meisten oder sogar alle Organe." Nawalny könnte mit einer Substanz vergiftet worden sein, die extrem auf die Lunge wirkte - das künstliche Koma hätte dann seine Beatmung ermöglicht. "Weil die Nervengifte den Abbau eines Nervenbotenstoffes hemmen, können Patienten zum Beispiel Krampfanfälle entwickeln. Dann will man sie durch ein künstliches Koma schonen", ergänzt Schwarzkopf.

Auch stationär behandelte Corona-Patienten liegen oft im künstlichen Koma. Grund dafür: eine künstliche Beatmung.

"Bei invasiver Beatmung werden Patienten sediert, damit sie den Beatmungsschlauch überhaupt tolerieren", sagt Mediziner Schwarzkopf. Bei stationär behandelten Corona-Patienten war das in insgesamt 17 Prozent der Fällen notwendig, wie eine deutschlandweite Analyse auf Basis abgeschlossener Krankenhausfälle zeigt.

Von den Patienten, die im Krankenhaus behandelt wurden, landete jeder Fünfte auf der Intensivstation. Dort ist die Rate der künstlich Beatmeten höher: Laut interaktiver Karte der "Berliner Morgenpost" werden aktuell rund 60 Prozent der insgesamt 228 Covid-19-Patienten, die auf einer Intensivstation liegen, künstlich beatmet.

Wie weckt man Patienten aus dem künstlichen Koma?

Wie aber beendet man den Zustand des künstlichen Komas wieder? "Es gibt verschiedene Protokolle, um jemanden aus dem künstlichen Koma zurückzuholen. Grundsätzlich wird die Sedierung schrittweise zurückgefahren", sagt Schwarzkopf. 'Künstliches Koma' sei als Sammelbegriff problematisch: "Wir haben eine ganze Bandbreite von Bewusstseinsgraden, die wir bei einer Sedierung anstreben können. Die Tiefe des Bewusstseinsverlustes kann durch die Medikamentendosierung beeinflusst werden, es gibt also unterschiedliche Grade der Sedierung."

Dadurch unterscheiden sich auch die Ablaufprotokolle: "Wir haben in der Intensivmedizin gelernt, dass es sinnvoll ist, die Dosierung der Sedierung jeden Tag neu zu überprüfen. Ein gängiges Intensivprotokoll ist der tägliche Aufwachversuch – wenn der Patient sich dafür eignet. Dabei wird die Spritzenpumpe ausgeschaltet und nach wenigen Stunden wieder auf der gewünschten Dosis eingeschaltet", erklärt der Arzt. Bei einem endgültigen Ausstieg könne man die Sedierung komplett ausschalten und abwarten, wie sich der Patient entwickelt. Es gäbe aber auch Protokolle, bei denen - ausgerichtet an Funktion der Leber oder der Nieren des Patienten - die Dosis über die Spritzenpumpe jeden Tag um eine bestimmte Prozentzahl reduziert werde.

Kein direktes Aufwachen

Durch das Absetzen der Medikamente ist ein direktes Aufwachen nicht gegeben: "Bei Patienten, die wir ohne eine Gehirnschädigung ins künstliche Koma versetzt haben, gehen wir davon aus, dass nach Abklingen der Medikamentenwirkung der Ausgangszustand einkehrt." Komplizierter sind da Schädel-Hirnverletzungen: "Wenn eine Gehirnschädigung vorliegt, können wir nicht abschätzen, wie die Unfallfolgen den Bewusstseinszustand nachhaltig beeinflussen werden", erzählt Schwarzkopf aus der Praxis.

Hier müsse man deshalb beobachten, ob es sich bei den Reaktionen um nachhängende Wirkungen der Narkosemedikamente handele oder um Folgen des ursprünglichen Geschehens. Eine Prognose im Vorfeld bleibt schwierig: "Durch bildgebende Verfahren wie CT oder MRT kann man nicht genau abschätzen, wie wach der Patient am Ende sein wird", so Schwarzkopf.

"Hohe Kunst der Steuerung"

Wurde ein Patient im Rahmen einer künstlichen Beatmung ins Koma versetzt, gilt: "Man kann die Sedierungstiefe so anpassen, dass der Patient wach und ansprechbar ist. Das ist eine hohe Kunst der Steuerung", sagt Experte Schwarzkopf. Gelingt dies, könne man in diesem Zustand den Beatmungsschlauch entfernen.

Häufiger sei aber so, dass man nach mehreren Wochen der Beatmung einen Luftröhrenschnitt vornehme. "Dabei wird die Beatmung über eine Trachealkanüle durchgeführt – der Kehlkopf und der Mund-Rachen-Bereich sind dann nicht mehr vom Beatmungsschlauch betroffen. Der Reiz, sich gegen die Beatmung zu wehren ist deutlich geringer", erläutert der Mediziner.

Rolle der Angehörigen

Nicht immer verläuft die Rückholung aus dem künstlichen Koma problemlos: "Klassische Komplikation von Sedierung und Beatmung ist das Delir, das 60 bis 70 Prozent der Patienten zeigen.", berichtet Schwarzkopf. Es gehe dabei aber nicht vorrangig darum, weiße Mäuse oder etwas Vergleichbares zu sehen, sondern eher um apathische Reaktionen. "Auch das kann Tage dauern", so Schwarzkopf.

Auch die Sedierungsmedikamente selbst könnten spezifische Nebenwirkungen hervorrufen, etwa die Nierenfunktion beeinträchtigen. Gleiches gilt für Schmerzmittel. Ob die Anwesenheit von Angehörigen immer unterstützend wirke, lässt sich laut Schwarzkopf nicht pauschal sagen. "Wenn sie die Angst des Patienten beim Wachwerden verstärken, merkt der Patient das auch", sagt er. Würden sie aber den Prozess mit dem Verständnis begleiten, dass er langwierig sei und Tage dauern könne, dann könnten sie positiv Einfluss nehmen.

Über den Experten: Privat-Dozent Dr. Konrad Schwarzkopf ist Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin sowie Ärztlicher Leiter des Zentrums für Intensiv- und Notfallmedizin und stellvertretender Ärztlicher Direktor am Klinikum Saarbrücken. Er ist Facharzt für Anästhesiologie mit den Zusatzbezeichnungen "Spezielle Intensivmedizin" und "Notfallmedizin".

Verwendete Quellen:

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