Die Erderwärmung könnte bereits in den 1860er-Jahren begonnen haben. Das legt eine Studie über Schwammskelette aus dem Karibischen Meer nahe. Deren Autoren zufolge hätten wir das 1,5-Grad-Ziel damit schon überschritten – eine Schlussfolgerung, die unabhängige Experten kritisieren.

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Die globalen mittleren Oberflächentemperaturen könnten einer Forschungsgruppe zufolge bereits 1,7 Grad über dem Temperaturniveau vor der industriellen Revolution liegen. Das leiten australische und US-amerikanische Wissenschaftler aus der Untersuchung der Skelette von Schwämmen im Karibischen Meer ab. In ihrer im Fachblatt "Nature Climate Change" veröffentlichten Studie vermutet die Gruppe, dass die Erderwärmung schon in den 1860er-Jahren begann - rund ein halbes Jahrhundert früher als den Modellierungen des Weltklimarats IPCC zufolge.

"Vom Menschen verursachte Emissionen treiben die globale Erwärmung voran, doch der Temperaturanstieg im Vergleich zum vorindustriellen Niveau ist ungewiss", schreibt das Forschungsteam um Malcolm McCulloch von der University of Western Australia. Da regelmäßige Temperaturmessungen erst im 19. Jahrhundert, in manchen Regionen erst im 20. Jahrhundert begannen, ist die Klimaforschung für frühere Temperaturwerte auf Schätzungen und Modelle angewiesen. McCulloch und sein Team versuchten nun, mittels Schwammskeletten eine durchgängige Temperaturaufzeichnung auszuwerten.

Skelette speichern Umweltbedingungen

Die Schwämme gehören zur Art Ceratoporella nicholsoni, die sehr langsam wächst und mehrere Jahrhunderte alt werden kann. Die chemische Zusammensetzung ihres Kalkskeletts kann Aufschluss über vergangene Umweltbedingungen geben.

Die Forschungsgruppe sammelte die Schwämme an Standorten um die karibische Insel Puerto Rico in 33 bis 91 Metern Wassertiefe und untersuchte diese auf die beiden Elemente Kalzium (Ca) und Strontium (Sr), welche sich in ihren Skeletten anreichern. "Das Verhältnis von Sr/Ca wirkt wie ein historisches Thermometer mit niedrigeren Werten in wärmeren Perioden und höheren Werten in kühleren Perioden", erläutert Wenfeng Deng von der Chinese Academy of Sciences in Guangzhou in einem ebenfalls in "Nature Climate Change" veröffentlichten Kommentar. Auf diese Weise lieferten die Schwämme eine Temperaturkurve, die bis zum Jahr 1700 zurückreicht.

Jene Temperaturen des karibischen Wassers um die Schwämme nutzte das Team als Stellvertreter-Daten: So zogen sie aus diesen Werten Rückschlüsse auf die globalen Temperaturen der Meeresoberflächenwasser und daraus wiederum auf die globalen Durchschnittstemperaturen der gesamten Erdoberfläche.

Tatsächlich wurden solche "Proxy"-Daten schon in anderen Studien genutzt, um Meerestemperaturen zu rekonstruieren. Üblicherweise würden dafür allerdings Korallen analysiert, merkt Anton Eisenhauer vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel (Geomar) in einer unabhängigen Einordnung an.

Die hier verwendeten korallinen kalzifizierenden Schwämme seien das bessere und stabilere Klimaarchiv: Sie würden in größeren Wassertiefen wachsen und das durchmischte Oberflächenwassermasse des Ozeans repräsentieren, während Korallen nur die Oberflächentemperatur des Meerwassers der oberen etwa fünf Meter Wassertiefe reflektierten. "Will man Langzeittrends sehen, sind die korallinen Schwämme viel besser geeignet, so wie auch in der Studie geschehen", sagt Eisenhauer.

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1,7 Grad über dem vorindustriellen Niveau

Wie der Geomar-Experte betont, seien die Rückschlüsse der Studie von den gemessenen Werten in den korallinen Schwämmen auf die globalen, historischen Meerestemperaturen "valide" und sollten berücksichtigt werden. "Was noch fehlt, ist eine Bestätigung der Ergebnisse durch Schwämme in anderen Gebieten und unabhängiger Gruppen."

Jochen Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg äußert sich hier deutlich kritischer: "Die Arbeit liefert keinerlei schlüssigen Belege dafür, dass die Schwammskelette an einem einzigen Ort etwas über die globale Mitteltemperatur aussagen." Vor allem sei die Schlussfolgerung der Studie, die Welt habe sich bereits um 1,7 Grad erwärmt, unhaltbar.

Tatsächlich sieht das Team in seinen Untersuchungsergebnissen Hinweise darauf, dass die Erderwärmung bereits in den 1860er Jahren begann - und damit ein halbes Jahrhundert früher als laut den Modellierungen des Weltklimarats (IPCC). Damit läge dann aber auch die aktuelle durchschnittliche Temperatur bereits 1,7 Grad höher als in der vorindustriellen Zeit - und nicht 1,2 Grad, wie vom IPCC angenommen. "Diese Studie ist ein überzeugender Aufruf zu sofortigen, wirksamen und fundierten Maßnahmen zur Bewältigung der globalen Klimakrise", urteilt Deng in seinem Kommentar.

Kritik von unabhängigen Experten

Diese Einschätzung genauso wie die Schlussfolgerungen der Studie werden indes von einigen unabhängigen Experten nicht geteilt. Neben Jochen Marotzke äußert sich auch Helge Goessling vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven, kritisch.

Goessling bezeichnet die Methodik der Studie in großen Teilen zwar als solide. "Dennoch habe ich methodische Bedenken, die insgesamt Zweifel an den Ergebnissen aufkommen lassen." So sei beispielsweise nicht hinreichend belegt, dass die Meerestemperatur einer einzelnen Region - in diesem Fall der Karibik - den langfristigen Verlauf der globalen Durchschnittstemperatur allgemein wiedergibt. Aus diesen und anderen Gründen sei er nicht davon überzeugt, dass die Projektionen der Klimamodelle maßgeblich korrigiert werden müssten.

Mojib Latif vom Geomar spricht ebenfalls von Unsicherheiten in der Methodik - aber auch von einer sehr akademischen Diskussion: "Meiner Meinung nach ist es auf der Erde bereits viel zu warm, egal ob wir nun 'offiziell' noch unter oder doch schon über 1,5 Grad Celsius stehen." Die Auswirkungen der bereits realisierten globalen Erwärmung seien schon katastrophal, so Latif: "Meiner Meinung nach sollten wir nicht über Zehntelgrade diskutieren und von der Dringlichkeit des Handels ablenken." (Von Stefan Parsch, dpa/mak)

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