Audi, BMW, Daimler und Porsche sehen sich aktuell mit Vorwürfen konfrontiert, welche die Dimensionen der sogenannten Dieselgate-Affäre bei weitem sprengen könnten: Seit Jahrzehnten sollen die vier Hersteller rechtswidrig untereinander Absprachen getroffen haben.

Ein Interview

Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" sprach in seiner jüngsten Ausgabe von einem Kartell. Die EU-Kommission prüft nun diesen Verdacht, Politiker zeigen sich schockiert.

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Automobilexperte Professor Stefan Bratzel, Leiter des Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach beantwortet die wichtigsten Fragen:

Kleine Krise oder komplette Katastrophe: Was bedeuten die aktuellen Kartell-Vorwürfe für die deutsche Automobilindustrie?

Stefan Bratzel: Ein mögliches Auto-Kartell ist alles andere als ein Kavaliersdelikt, das einige Milliarden Euro an Strafzahlungen nach sich ziehen kann.

Vor dem Hintergrund des Dieselskandals sind verbotene Absprachen auch eine Art Super-Gau für die Glaubwürdigkeit der deutschen Automobilindustrie.

Welchen Einfluss könnten die Vorwürfe auf die aktuelle Diesel-Debatte in Deutschland haben?

Für die Diskussion um Diesel-Fahrverbote in Städten, mögliche Nachrüstungen sowie rückläufige Diesel-Neuzulassungen leistet das Kartell der Hersteller einen veritablen Bärendienst.

Hinzu kommt, dass ein weiterer Rückgang des Dieselanteils an den Neuzulassungen auch die Erreichung der Klimaziele der deutschen Hersteller bis 2021 praktisch unmöglich macht.

Dies könnte wiederum Strafzahlungen nach sich ziehen.

Wie geht es weiter mit der für die deutschen Autobauer so wichtigen Dieseltechnologie?

Es fehlt ohnehin weithin an Rationalität bei der Debatte um den Diesel und die besten Antriebskonzepte der Zukunft. Nachrüstungen von Dieselfahrzeugen sind nur dann wirklich sinnvoll, wenn diese auch auf der Straße die NOx-Emissionen massiv reduzieren.

Umgekehrt machen generelle Verbote, beispielsweise von Dieselfahrzeugen bis EURO 5 keinen Sinn, wenn Euro-6-Fahrzeuge in der Realität ähnlich viel NOx ausstoßen.

Eine derartige "Blaue Plakette“ wäre die Fortsetzung der reinen Symbolpolitik der letzten Jahre. Allerdings gehört auch zur Wahrheit, dass Dieselfahrzeuge, die der Euro-6d-Norm entsprechen, relativ sauber sind.

Vertreter von Bundesregierung und Europäischer Union zeigen sich überrascht von den Kartell-Vorwürfen. Welche Rolle spielt die Politik im Rahmen der aktuellen Debatte?

Die Aufdeckung eines Auto-Kartells setzt die deutsche und europäische Politik unter starken Handlungsdruck. Im Zusammenhang mit dem Dieselskandal war die Politik bereits geprägt von einer Kultur des Wegschauens.

Es besteht ohnehin der Eindruck in der Bevölkerung, dass die Politik die Gesundheitsinteressen der Menschen geringer bewertet als die wirtschaftlichen Interessen der Automobilindustrie.

Entsprechend müssen die Kartellvorwürfe streng geprüft werden und harte Konsequenzen haben.

Handelte die deutsche Regierungspolitik zu lange zu nachsichtig im Umgang mit der Automobilbranche?

Insgesamt darf die deutsche Politik künftig keine falsch verstandene Rücksicht mehr auf die Automobilindustrie nehmen. Das ist auch und gerade im Interesse der Zukunft der Branche.

Vielmehr müssen die richtigen Rahmenbedingungen für ihre Zukunftsfähigkeit gesetzt werden. Das bedeutet etwa strenge Vorgaben für Grenzwerte von Luftschadstoffen und Klima, anstatt nur bestimmte Technologien wie Dieselmotoren oder Elektromobilität zu fördern.

Dazu muss weiter intensiv mit der Automobilindustrie gesprochen werden. Allerdings muss gleichzeitig die Kontrolle der gesetzlichen Vorgaben einen Quantensprung machen und bei Verstößen empfindliche Strafen drohen.

Wie kann die deutsche Automobil-Branche aus der Negativspirale der vergangenen Jahre herauskommen?

Die Automobilhersteller müssen wieder von der Defensive in die Offensive. So steht die Branche ohnehin in vielerlei Hinsicht vor einem grundlegenden Paradigmenwechsel, der herkulesische Veränderungsfähigkeiten der Akteure erfordert.

Es ist zu hoffen, dass Dieselskandal und Auto-Kartell bei einer grundlegenden Aufarbeitung zu einer notwendigen Katharsis in den Unternehmen führen.

Sind die klassischen Autobauer in ihrem aktuellen Zustand überhaupt zukunftsfähig?

Es zeigt sich an den neuerlichen Geschehnissen, dass in großen Teilen der Automobilindustrie ein ethisch-organisatorischer Kulturwandel stattfinden muss.

Die Zeiten von geheimen Absprachen, Tricksereien oder Gesetzesbrüchen sollten in einer globalisierten, hoch dynamischen und transparenten Welt aus Eigeninteresse der Akteure der Vergangenheit angehören.

Den Kampf der Welten gegen die Big-Data-Player aus dem Silicon Valley oder aus China können die Hersteller ohnehin nur gewinnen, wenn sie sich organisatorisch und kulturell völlig neu aufstellen.

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