Vor fast 20 Jahren nahm er bei "Deutschland sucht den Superstar" teil, wurde Zweiter. Inzwischen ist Mike Leon Grosch als Schlagersänger erfolgreich. Am 15. September ist sein neues Album "Tief" erschienen. Warum intensive Lyrics und Popschlager zusammenpassen, wie er heute zu Casting-Formaten wie DSDS steht und wie er lernen musste, seine ADHS-Erkrankung zu verstehen, verrät der 46-Jährige im Interview mit unserer Redaktion.

Ein Interview

Herr Grosch, Ihr neues Schlager-Album trägt den Titel "Tief". Wie tief unter die Haut gehen die neuen Songs?

Mike Leon Grosch: Der Schlager an sich hat ja eine Unter-die-Haut-Garantie, aber eben nicht so tief. Ich persönlich mag den alten Schlager mit Hymnen wie "Tränen lügen nicht" von Michael Holm und habe dementsprechend in den vergangenen Jahren vor allem textlich die Tiefe im deutschen Schlager vermisst. Der Schlager von heute hat viel Kraft und kann Party. Aber kann man auch wieder Songs machen, die textlich etwas tiefer gehen? Und die nicht die offensichtlichen Bilder wie "unter dem Regenbogen tanzen" oder "unter dem Sternenhimmel stehen" zeichnen? Denn ganz egal, wie häufig es gesungen wird: Ich habe noch nie barfuß im Regen getanzt. Das kenne ich nicht. Dafür weiß ich aber, wie es in einer Beziehung ist und man himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt ist. Das ist für mich das greifbarere Bild.

Die Lyrics zu den Songs stammen von Ihnen und Ihrer Frau Daniela …

Genau, als wir damals mit dem Album gestartet hatten, haben wir uns zunächst Songs zusenden lassen, die uns aber zu flach waren. Wie so häufig bei Schlagersongs ging es viel um Themen wie Fremdgehen. So etwas zu singen, würde bei mir nicht funktionieren. Jeder weiß, dass ich glücklich verheiratet bin und ich kein Leben à la Textzeilen wie "bis morgens um halb vier auf Ibiza im Sternenregen tanzen" führe. So entstand die Idee, die Songs selbst zu schreiben. Zusammen mit Oli Nova (Musikproduzent und Komponist, Anm. d. Red.) haben wir es also versucht und es hat von Anfang an echt gut funktioniert. Mit dem Wissen, dass Don Henley von den Eagles fast 20 Jahre gebraucht hat, um "Hotel California" zu schreiben, stehen wir mit neun Monaten Produktionszeit doch gar nicht so schlecht da (lacht). Dennoch war der Schreibprozess natürlich sehr intensiv, manchmal quälend, manchmal jubelnd – alle Bewegungen und Emotionen waren dabei.

War diese enge Zusammenarbeit für Sie und Ihre Frau als Paar herausfordernd?

Witzigerweise werden wir das sehr häufig gefragt – auch in unserem privaten Umfeld. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als jeden Tag mit meiner Frau zu arbeiten. Natürlich gelingt es uns nicht immer, den Absprung in den Feierabend zu schaffen und somit kommt es mitunter durchaus zu Situationen, in denen wir spät abends in der Badewanne sitzen und über Streamingzahlen bei Spotify diskutieren. Dennoch sehe ich die Vorteile. Ich verbringe in der Regel 24 Stunden am Tag mit meiner Frau und das mag ich sehr. Insofern war der Prozess des gemeinsamen Schreibens der Lyrics wirklich toll für uns.

Von Balladen bis hin zu partytauglichen Songs ist auf dem Album alles vorhanden – inwiefern passen tiefgehende Lyrics und tanzbarer Popschlager zusammen?

Interessante Frage. Während des Schreibprozesses habe ich bestimmt 50 mal zu meiner Frau gesagt, es wäre doch so viel einfacher, unsere Gedanken in Gedichtform aufzuschreiben. Denn man benötigt in der Regel viel zu viele Worte, um etwa ein Gefühl zu beschreiben. Das ist die Herausforderung beim Songwriting, denn die Zeilen dürfen nicht allzu lang sein, damit sie singbar bleiben. Also haben wir irgendwann begonnen, Begriffe zu sammeln und diese in Verse zu schreiben. Das war herausfordernd, aber ich denke, es ist uns sehr gut gelungen.

"In Zeiten von Gleichwürdigkeit gehören Formate, in denen sich über Menschen lustig gemacht wird, nicht mehr auf die Bildschirme."

Sänger Mike Leon Grosch

Sie selbst haben vor fast 20 Jahren bei "Deutschland sucht den Superstar" teilgenommen. Spielen Casting-Shows heute noch eine große Rolle?

Meiner Meinung nach dürfte es Casting-Shows gar nicht mehr geben. Nehmen wir beispielsweise "Germany's Next Topmodel". Das ist für mich ein Format, das es eigentlich so nicht mehr geben dürfte. Denn wenn eine Jury behauptet, man sei zu dick oder zu klein, sprechen wir von Bodyshaming in Perfektion. Aber auch eine Sendung wie DSDS darf es in dieser Form nicht mehr geben. In Zeiten von Gleichwürdigkeit gehören Formate, in denen sich über Menschen lustig gemacht wird, nicht mehr auf die Bildschirme. Damit meine ich auch Reality-Formate wie etwa "Bauer sucht Frau", in denen mutmaßliche Amateure vor die Kamera gezerrt und vorgeführt werden. Über die Teilnehmenden wird sich lustig gemacht, dabei wissen die Betroffenen häufig gar nicht, was sie da überhaupt tun.

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die sozialen Medien?

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Nation spaltet. Das hat uns etwa die Pandemie vor Augen geführt. Häufig stelle ich im Gespräch mit Menschen fest, dass sie nachrichtliche Meldungen mit einem Facebook-Post verwechseln. Facebook dient häufig als Quelle und wird von vielen Menschen als Art Newsportal wahrgenommen, dabei sprechen wir von Fake-News. Aber die sozialen Medien bewirken auch Schönes – vor allem in künstlerischer Hinsicht. Das Phänomen, dass Talente ihre Songs posten und damit viral gehen, ist beeindruckend. Plattenfirmen wird auf diese Art durchaus bewusst, dass Talent-Scouting nicht mehr in Kneipen, sondern digital stattfindet. Das finde ich toll. Etwas Gerechteres kann es eigentlich kaum geben, als dass jemand durch sein Können erfolgreich ist. Getreu dem Motto: Bist du gut, hast du Klicks, bist du noch nicht so gut, passiert noch nicht so viel – für mich ist das eine angenehmere Jury-Bewertung als sich von Dieter Bohlen sagen lassen zu müssen, man klinge wie Kermit, der Frosch.

Wie beobachten Sie den Einfluss, den die sozialen Medien auf das Leben Ihrer Töchter haben?

Unsere älteste Tochter aus der ersten Ehe meiner Frau ist bereits 20 und hat somit ihre ganz eigene Medienkompetenz entwickelt. Sie ist eine starke Userin von TikTok und Snapchat, stellt aber mitunter auch fest, wie anstrengend es ist, stundenlang in den Apps unterwegs zu sein (lacht). Diese Erfahrung muss sie selbst machen, ehe sie vermutlich irgendwann feststellt, dass die echte Welt viel schöner ist. Das passiert vermutlich dann, wenn ein ernsthaftes Interesse daran besteht, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ich für meinen Teil habe häufig bereits nach 20 Minuten am Smartphone das Gefühl, total weichgekocht im Kopf zu sein. Bei unserer zehnjährigen Tochter ist das noch etwas anders. Sie nutzt Snapchat nicht für soziale Interaktionen, sondern vielmehr, um Fotos mit den allseits bekannten Hunde- und Tierfiltern zu machen. Kürzlich zeigte sie uns einen Filter, der ihren Po optisch vergrößerte – dieser Moment hat sich sehr in meinen Kopf eingebrannt.

Inwiefern?

In diesem Moment kam es seitens unserer Tochter zu Folgefragen, wie etwa "Bin ich zu dick?" oder "Ist mein Po zu klein?". Festzustellen, dass eine Zehnjährige herausfinden möchte, ob sie in ein allgemeingültiges Werteschema passt, ist grausam. Ich glaube aber nicht, dass Verbote oder ein Wegnehmen des Smartphones etwas bewirkt. Das ist meiner Meinung nach immer der falsche Weg. Der bessere Weg ist es, einen guten Draht zu seinen Kindern zu behalten, sodass sie den Eltern immer ehrlich schildern können, was sie bewegt.

"Die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit ist brutal."

Sänger Mike Leon Grosch

Im Alter von gerade einmal 39 Jahren sind Sie vollkommen unerwartet mit der eigenen Gesundheit konfrontiert worden, als Sie zwei Herzinfarkte erleiden mussten. Was hat diese körperliche Herausforderung auf mentaler Ebene mit Ihnen gemacht?

Das erste Gefühl, das ich damals hatte, war völliges Unverständnis. Denn eigentlich hatte ich mich immer wie He-Man gefühlt. Wie konnte mir so etwas also passieren? Die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit ist brutal. Denn was kann es Größeres und Kraftvolleres geben als das eigene Sterben? Dem ersten Herzinfarkt bin ich dennoch relativ arrogant begegnet. Etwas an meinem Lebensstil zu ändern, stand für mich nicht zur Debatte, immerhin wurde der Infarkt ja behandelt und der Fehler im System behoben. Dreieinhalb Wochen später kam dann der zweite Infarkt. Dieser hat mich mental komplett zerrissen. Mir wurde bewusst, dass etwas nicht stimmt und es war sehr quälend, mir einzugestehen, dass mein Herz nicht in Ordnung war. Ich habe daraufhin starke Panikattacken entwickelt, zu Hochzeiten waren es etwa 20 am Tag. Wer schon einmal eine Panikattacke hatte, wird wissen, dass sie sich wie ein Herzinfarkt anfühlt. Lustigerweise weiß ich heute, dass sich ein Infarkt gar nicht so anfühlt wie eine Panikattacke, weil der Infarkt ganz plötzlich kommt, während die Panik sich langsam anschleicht.

Wie haben Sie aus dieser schweren Zeit herausgefunden?

Ehrlicherweise nur über die Zeit. Vielleicht bin ich ein Freund von Statistiken, auf jeden Fall habe ich begonnen, mich wie eine Art Reaktor zu betrachten, der mit dem Schild "99 Tage unfallfrei" versehen wurde. Je länger also der Zeitraum ohne Vorfälle wurde, umso sicherer konnte ich mich nach und nach wieder fühlen.

Gibt es dennoch Situationen, in denen sich eine gewisse Unsicherheit bemerkbar macht?

Ja. Wenn ich beispielsweise alleine im Auto eine sehr abgelegene Landstraße befahre, ertappe ich mich manchmal bei dem Gedanken, mich zu fragen, wo das nächstgelegene Krankenhaus ist. Diese Momente gibt es, inzwischen kann ich sie aber sehr gut von mir wegdrücken, weil ich weiß, dass ich diesen Gedanken selber erfunden habe.

In diesem Jahr wurde bei Ihnen ADHS diagnostiziert. Wie kam es zu der Diagnose?

Meine Frau hat einen Podcast gehört, in dem eine betroffene Frau über ADHS im Erwachsenenalter gesprochen hat. Und Dani hat mir dann sofort den Podcast weitergeleitet mit den Worten "Schatz, das bist doch 100 Prozent du!" ADHS kennen viele Menschen ja vom Hörensagen nach nur von Kindern, daher ja auch der Ausdruck des "Zappelphilipps". Während sich die Unruhe bei Kindern auf die Motorik auswirkt, geht sie bei Erwachsenen gewissermaßen in den Kopf. Das heißt, ich habe alle drei Sekunden einen neuen Gedanken, ich spreche dann immer von der "Popcorn-Maschine" in meinem Kopf. Ich war dann bei einer Psychiaterin in Köln und die hat die Diagnose gestellt.

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Wie geht es Ihnen seit der Diagnose? Hat man dadurch Antworten auf Fragen und Verhaltensmuster, die man sich vorher nie beantworten konnte?

Am Anfangt habe ich zwei Wochen das Medikament Ritalin ausprobiert, auf das ich aber nicht gut reagiert habe. Ich habe dann versucht, die Krankheit zu verstehen, habe mich intensiv in die Materie eingelesen und versucht, mein Verhalten besser zu reflektieren, wann ich wie auf bestimmte Situationen reagiere. Alleine das bessere Verständnis für das eigene Verhalten hilft sehr, besser mit dieser ständigen Unruhe im Kopf umzugehen.

Ihr Leben als Musiker ist nicht stressfrei – wie geben Sie mit Blick auf Ihre Gesundheit auf sich Acht?

Das Leben einer Person in der Öffentlichkeit hat viel Fremdbestimmtheit. Insofern muss man sich herausnehmen, bei all den Terminen normal zu leben. Es gibt viele Kollegen und Kolleginnen aus der Musikbranche, die jeden Job spielen, was total in Ordnung ist. Aber ich für meinen Teil mache das nicht. Das bedeutet dann zwar, weniger Geld einzunehmen, was sicherlich nicht immer toll ist, aber für uns ist es wichtiger, ein ausgeglichenes Leben zu führen. Wenn das dann bedeutet, nicht mit dem Ferrari zum Bäcker fahren zu können, ist das in Ordnung (lacht). Kürzlich sagte jemand zu mir: "Hoffentlich wirst du nicht so groß wie Helene Fischer." Ich weiß, wie diese Aussage gemeint war, dennoch konnte ich aus tiefstem Herzen mit "Das will ich auch gar nicht" antworten. Es gibt gewisse Leben, die ich überhaupt nicht beneide. Natürlich freue ich mich, wenn meine Karriere gesund wächst, aber ich möchte auch die Person sein, die entscheidet, wann genug ist.

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