Happy New Year! Oder wie man gegenüber von Düsseldorf sagt: Frohes Neuss! Apropos Düsseldorf: Haben Sie die Silvesternacht auch damit verbracht, enttäuschte Westentaschen-Liberale und in die Rechtsbubble runternivellierte Chefredakteure stolz zu machen, indem Sie mehrere Bruttoregistertonnen Pyromaterial zu einem Feuerwerk der fehlgeleiteten Freiheits-Verteidigung ins Firmament geballert haben?

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht der Autorin dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

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Mal abgesehen von Hundertausenden toter Vögel und Millionen verstörter Haustiere gibt es ja kaum einen besseren Grund dafür, sich in einem Pandemie-Jahr trotz Verkaufsverbots für Feuerwerkskörper stundenlang ins Auto zu setzen, in Polen stolz Unmengen an unzertifizierten, illegalen Böllern zu kaufen, als sich mal wieder so richtig wie Sophie Scholl zu fühlen.

Denn wie jeder Vorzeigedeutsche in seinem von selbsternannten Freiheits-Philosophen quervorgedachten Wahnbild von Demokratie weiß: Sophie Scholl hätte in ihrer verehrungswürdigen Abscheu gegen den Nationalsozialismus spätestens ab dem 29. Dezember Chinaböller im Sekundentakt abgefeuert. Der Jahreswechsel – ein Schaulaufen der intellektuellen D-Böller: Sehr laut, vollkommen sinnlos, extrem gefährlich, nach wenigen Sekunden verschlissen und meistens riechen sie auch noch beschissen.

Nicht das hellste Leuchtfeuerwerk auf der Torte

Der echte deutsche Mann. Traditionell ein Jäger und Sammler. Früher jagte er Rekorde und Nobelpreise, sammelte Erfolge und Auszeichnungen. Heute reicht es offenbar, dem Staat mit zivilem Silvester-Ungehorsam die Notaufnahmen vollzuspülen, um sich als echter Erfolgsrebell zu fühlen. Endlich mal etwas von Wert im tristen Leben der Bedeutungslosigkeit. Mal ein Zeichen setzen, das mehr Menschen sehen als die paar Michael Wendler Fans und Stefan Homburg Jünger, die auf Telegram zur großen Revolution ausrufen.

Wann wurde aus dem Land der Dichter und Denker das Land der Demagogen und Dauerempörten? Wann hat der Bodensatz des Bildungsdilemmas begonnen, "Freiheit" durch die Kommentarspalten zu peitschen, weil sie besser klingt als "Egoismus"? Denn wer kennt ihn nicht, diesen legendären Artikel im Grundgesetz: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Außer beim Böllern, da ist alles erlaubt, wegen Freiheit"?

Bernd will Dr. Coldwell Klein halten

Viel ist ihnen nicht geblieben. Die SPD hat die Bundestagswahl gewonnen, die Impfpflicht kommt – und selbst auf das Verfassungsgericht ist kein Verlass mehr. Wer im Januar 2022 also zumindest noch als halbwegs zurechnungsfähig gelten möchte, dessen Repertoire an Gallionsfiguren ist inzwischen kleiner als die Rechtsgrundlage, auf der Beatrix von Storch die Sonne verklagen will.

Der reichweiteninteressierte Querdenker von heute möchte lieber nicht zu der Expertengruppe gerechnet werden, die ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse bei Naidoo, Hildmann, Schweiger oder Dr. Leonard Coldwell erworben haben. Jener Dr. Coldwell soll laut Wikipedia übrigens bürgerlich Bernd Klein heißen, kein Arzt sein und hauptberuflich als Hochstapler, Verschwörungstheoretiker und vorgeblicher Wunderheiler arbeiten, aber das nur für die Ohren-Fetischisten unter meinen Lesern.

Für jene Zeitgenossen, die sich aus Angst vor sozialer Ächtung nicht trauen, zu ihrer Bewunderung für Bodo Schiffmann, Reiner Fuellmich und Eva Rosen zu stehen, zumindest solange die noch keine eigenen Kolumnen in der "Welt" haben, bleiben als letzte Ikonen nur mehr Wolfgang Kubicki und Sahra Wagenknecht. Selbst ehemalige Vorzeige-Partisanen wie Hendrik Streeck gelten als verloren, seit sie mit Karl Lauterbach im Expertenrat gemeinsame Sache machen.

Dubai bye, bye Junimond

Aber ich komme vom Thema ab. Es ging ja um die letzte unumstrittene Querdenker-Bastion: das Böllern. Was muss das für ein erhebendes Gefühl sein, als Jeanne d'Arc der Pyroliberalen mit einem Arsenal an eingeschmuggelten Qualitätsböllern im Kofferraum an Krankenhäusern vorbeizubrettern, für die man in Dubai erstmal 30 Jahre unter Terrorverdacht ins Gefängnis gehen würde.

Silvester, oder wie das "Bild TV"-Stammpublikum sagt: Sylvester. Der letzte Tag im gregorianischen Kalender. Der Tag, an dem der patriotische Kämpfer für deutsches Kulturgut zuverlässig bereits am orthografischen Niveau eines Grundschülers scheitert. Anmerkung der Autorin: Hier wird absichtlich nicht gegendert, denn Mädchen sind erwiesenermaßen schlauer als Jungs.

Das spielt im Kontext zwar keine Rolle, aber ich freue mich immer so auf die 2.000 Premium-Kommentare, die anonyme Tastatur-Helden reflexartig überall hinterlassen, sobald irgendwo die Vokabel "Gendern" auftaucht. Empörungs-Hysteriker sind wirklich einfacher zu steuern als Marionetten der "Augsburger Puppenkiste".

Frohes Neuss!

Fun-Fact: Düsseldorf ist ein bisschen wie Dubai. Nur halt mit beschissenem Wetter. Ansonsten gibt es aber hier wie dort viel überteuertes Bling-Bling und überoperierte 60-Jährige, die gerne aussehen würden wie 35. Und wenn man echte Altbier-Fans fragt, gibt es genauso wie im Urlaubs-Eldorado für junge Erwachsene, deren Haupterwerbsquelle aus einem mit Fitness-Tees und Kalendersprüchen zugepflasterten Instagram-Account besteht, auch rund um Düsseldorf eigentlich nichts Spektakuläres mehr, sondern nur unbedeutende Wüste. Köln zum Beispiel.

Als Serviceleistung für Sie, liebe Leserinnen und Leser, bin ich über den Jahreswechsel extra nach Dubai gereist, um exklusiv aus dem Orient-Nähkästchen zu plaudern. In der Wahlheimat von, naja, Stars wie Sami Slimani, Georgina Fleur, Fiona Erdmann oder Simon Desue ist immer Sommer. Wie froh das Emirat darüber ist, dass mich die Flucht vor den trotzigen Böller-Orgien der Freiheitselite ausgerechnet in den Wüstenstaat verschlagen hat, sieht man daran, dass ich spontan mit drei der jährlich lediglich fünf Regentage empfangen wurde.

Die Wüste lebt

Ansonsten stimmen in Dubai ziemlich alle Klischees. Es gibt Palmen-Inseln, die künstlich aufgeschüttet wurden. Und auf denen tragen in künstlich auf orientalisch getrimmten Bettentürmen russische Ehefrauen ihre künstlichen Brüste spazieren. So wächst zusammen, was zusammengehört. Zahlreiche Influencer posieren an beliebten Foto-Hotspots.

Fast fürchtet man, versehentlich in einen Rabattcode zu laufen. Promis loben das Land für seine günstigen Wohnungen und den unkomplizierten Lifestyle. Echter Geldadel schätzt die Sicherheit. Während neureichen Gattinnen in London oder New York auf offener Straße die Cartier-Ohrringe abgerissen werden (notfalls nebst halbem Ohr) ist Dubai sicher.

Die 0%-Steuerpolitik spielt natürlich keine Rolle. Klar. Die nicht angemeldeten Demos, auf denen Querdenker mit Nazis, AfD-Hetzern und Reichsbürgern gegen Corona-Maßnahmen protestieren, sind ja eigentlich harmlose Spaziergänge. Da könnte man auch sagen: Sie sind nicht festgenommen, das sind nämlich keine Handschellen, das ist völlig harmlose Marktforschung für Sexspielzeuge.

Traumschiffe versenken mit Influencerin Caro Daur

Ansonsten gab es diese Woche noch einen Mini-Aufreger. Influencerin Caro Daur gab ihr Schauspieldebut auf Deutschlands Sehnsuchts-Dampfer Nummer Eins, dem "Traumschiff". Und statt die charmante Hamburgerin dafür zu loben, dass sie ihre Instagram-Tantiemen noch hier versteuert, statt sich in Dubai jeden Tag mit Sarah Harrison zum Brunch im Burj al Arab zu treffen, widmete sich das Twitter-Tribunal lieber seiner Berufung: Der choreographierten (Achtung!) Daurempörung. Ja, ja. Wortwitze mit Daur und Dauer. Sprachinnovativ so lecker wie ein Dönerteller Versace. Übrigens die Leibspeise von Wayne Karpfenteich.

Caro Daur jedenfalls wurde rasch jedes Talent abgesprochen. Vor allem von Menschen, die wortreich beteuerten, sie hätten vorher von Caro Daur noch nie etwas gehört. Genau diese Mitglieder der Academy Awards empfahlen Daur, doch lieber weiterhin unter Ausschluss der intellektuellen Bildungselite Avocadotoasts auf Instagram zu präsentieren. Schon faszinierend, dass wir neben 80 Millionen Bundestrainern und 80 Millionen Virologen mittlerweile auch 80 Millionen Oscar-Preisträger in Deutschland beheimaten.

Gut, die Story war ein drittklassiger Abklatsch des Welterfolgs "Notting Hill". Was den meisten Diplom-Film- und Schauspielkritikern dabei jedoch entgangen war: Caro Daur hat das Drehbuch gar nicht geschrieben. Egal – Echauffieren ist wichtig, denn wir haben ja keine anderen Probleme. Wenn jetzt im nächsten "Tatort" noch Joshua Kimmich auftaucht, brennt vermutlich endgültig der Baum. Ich werde berichten!

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