"Schattenkinder" führt in eine sektenartige Künstlerkommune, deren Leiterin die Augen ihrer Anhänger tätowiert. Der Zürcher "Tatort" überzeugt mit packenden Bildern und zwei Ermittlerinnen, die viel zu cool sind, um sich von Schocktheater ablenken zu lassen.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Seit seinem Neuanfang hat es sich der Schweizer "Tatort" zur Aufgabe gemacht, Zürich von einer unbekannteren Seite zu zeigen. Fabrikgelände statt Einkaufsmeilen, Verkehrslärm statt Kuhglocken, Außenseiter statt Finanzeliten. "Schattenkinder" macht da keine Ausnahme und trägt diesen Anspruch schon im Namen. Dieses Zürich ist eine harte, sperrige Stadt, kein freundliches Alpdorf – und manchmal ein ziemlicher Alptraum.

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Im dritten Fall für die Kommissarinnen Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zürcher) und Tessa Ott (Carol Schuler) findet ein Schönheitschirurg seinen Sohn in einer verlassenen Lagerhalle tot von der Decke hängend. In Folie gewickelt wie ein Kokon. Was die Ermittlerinnen bei der Untersuchung des Toten zu sehen bekommen, ist allerdings kein Schmetterling: Max Gessner hat nicht nur ornamentale Tattoos im Gesicht - auch seine Hornhaut wurde tätowiert. Jetzt sieht es aus, als bestünde die Iris nur aus schwarzer Pupille.

Zürich zeigt sein "wahres Gesicht"

Die unheimliche Wirkung entpuppt sich als künstlerische Botschaft. Denn bei den Recherchen stellt sich heraus, dass Max unter dem Namen Cosmo zum Umkreis der Installationskünstlerin Kyomi (Sarah Hostettler) gehörte. Die schart junge, leidgeprüfte Menschen um sich, so wie den 26-jährigen Max (Vincent Furrer). Scheinbar aus gutem Haus, aber voller Schmerz und Ärger, der drogenabhängige Sohn eines in seine Arbeit vernarrten Erfolgsmenschen: Er habe ihn seit fünf Jahren nicht mehr gesehen, sagt der Vater (Imanuel Humm). Max sei "bei allen angeeckt", bestimmt "mal wieder aus einer WG geflogen" und habe sich nur gemeldet, wenn er Geld brauchte.

Vor seinem Tod aber fand Cosmo in Kyomis Kommune eine Familie, darauf beharren Kyomis Jünger, auch wenn Kyomi sie alle nur "Objekte" nennt. Die Künstlerin rasiert ihren Objekten die Haare vom Kopf und tätowiert ihnen Gesicht und Hornhaut – um zu helfen: "Wir können nur heilen, was wir sehen." Schmerz sichtbar zu machen ist Kyomis makabre künstlerische Berufung. Erst werden Gespräche geführt, und dann erarbeite sie mit ihren "Objekten", wie deren "wahren Gesichter aussehen müssen." Gesichter, deren Blicke aus tiefer Dunkelheit zu kommen scheinen und deren Tattoos an die Ornamentik fernöstlicher Religionen erinnert – aber ironischerweise auch an jene Markierungen, die Schönheitschirurgen verwenden, um auf der Haut geplante Eingriffe zu skizzieren. "Nicht jedem reicht eine schöne Hülle, um sich dahinter zu verstecken", provoziert Kyomi die gutraussehenden Ermittlerinnen.

Ein "Tatort" wird zur Charakterstudie

Während die analytische Isabelle Grandjean nichts als Entsetzen und Empörung für Kyomi aufbringt, zeigt sich Tessa Ott durchaus fasziniert. Das sorgt für zusätzliche Spannung zwischen den gegensätzlichen Kolleginnen, zumal Ott von einer schriftlichen Beurteilung Grandjenas abhängig ist: Der letzte Fall hat die Behörde an Tessa Otts Umgang mit Schusswaffen zweifeln lassen. Ob sie dienstunfähig ist, hängt jetzt nur noch von Isabelle Grandjeans Einschätzung ab.

Den Zuschauern wurde schon bei Einführung der aufsässigen Millionärstochter Ott im ersten Zürcher "Tatort" angedeutet, dass sie aus ganz persönlichen Gründen Schwierigkeiten hat, eine Waffe zu ziehen. "Schattenkinder" offenbart weitere Details aus Tessa Otts Vergangenheit. Auch hier bleibt die neue Folge aus Zürich dem großen Erzählbogen des Schweizer "Tatort" treu, dessen Fälle immer auch – und vielleicht sogar in erster Linie – ein Vehikel sind, um von den Kommissarinnen zu erzählen.

Bislang tat er das nie zu Lasten des Krimiplots, und auch dieses Mal ist das Drehbuch von Stefanie Veith und Nina Vukovic keine Ausnahme. So gibt es mit einem geschäftstüchtigen Galeristen und sogar dem Vater des Toten auch außerhalb der Kommune glaubhafte Verdächtige. Nur geht es hier eben nicht nur darum, wer Cosmo auf dem Gewissen hat.

Den Schmerz im Auge - raue Ästhetik als Markenkern

Auch Tessa Otts Haut ist vom Schmerz gezeichnet, doch anders als Kyomis Gefolgschaft liegt ihr viel daran, ihre Narben zu verstecken. Und sie ist so ziemlich das Gegenteil eines puren "Objektes", das willig einer Anführerin folgen würde. Natürlich reagiert eine impulsive Natur wie Tessa Ott, die eine wilde Jugend noch nicht ganz hinter sich gelassen zu haben scheint, auf Grenzgänger wie Kyomi anders als ihre immer beherrschte Kollegin. Und natürlich hat Isabelle Grandjean als ehemalige Mitarbeiterin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wenig Verständnis für absichtlich zugefügten Schmerz im Namen der Kunst und einer wie auch immer begründeten Wahrheitsfindung.

"Schattenkinder" erzählt von Schmerz und Traumata und unterschiedlichen Methoden, damit umzugehen. Und so wie das Drehbuch ohne plumpe Küchenpsychologie auskommt, so nutzen auch Regisseurin Christine Repond und ihr gestalterisches Team die schaudererregende Kunst Kyomis für eine packende Visualisierung der Geschichte, aber nie für plumpe Ekeleffekte. Wieder zeigt "Schattenkinder" ein ungewöhnliches, dunkles Zürich und seine zwei ungewöhnlichen, faszinierenden Ermittlerinnen mit einer rauen Eleganz, die sich zum ästhetischen Markenzeichen des Schweizer "Tatort" zu entwickeln scheint.

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