Ein fünfjähriger Junge ist verschwunden und Kommissarin Paula Ringelhahn ist verliebt. Leider in den Hauptverdächtigen. Aufgewühlte Ermittler müssen in diesem starken "Tatort" aus Franken mit ihren Gefühlen klarkommen.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Das Schöne an einem Krimi ist die immergleiche Struktur: Jemand begeht eine Straftat, es gibt ein Opfer und die Kommissarinnen und Kommissare suchen die Täterin oder den Täter. Es geht um Fakten und Indizien und Beweise. Natürlich kommen mit dem Motiv meist Gefühle mit ins Spiel, aber die Ermittler müssen die Sachlage mit kühlem Kopf analysieren.

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Im neuen "Tatort" aus Franken ist das anders. "Wo ist Mike?" erzählt davon, was passiert, wenn die Sachlage keine mehr ist. Wenn der ganze Fall zu einer Angelegenheit des Gefühls wird. Wenn man nicht einmal mehr den Augen trauen kann, weil die sehen, was man will, fühlt oder fürchtet - und nicht, was ist.

Aber erst einmal geht es mit den Fakten los: Der fünfjährige Mike ist verschwunden und Kommissarin Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) ist verliebt. Sie hat bei einem Mann übernachtet, kriegt das Grinsen gar nicht mehr aus ihrem Gesicht, und auch Rolf Glawogger (Sylvester Groth) ist offenbar betört genug, dass er Paula Ringelhahn gleich drei Sorten Eier zum Frühstück bereitet hat, weil er ja nicht wisse, wie sie ihre Eier möge.

Der Vater: Ein Choleriker

Wir Zuschauer haben außerdem noch einen älteren Jungen mit Mike durch einen Wald rennen sehen – Mike scheint freiwillig mitzurennen, sein Freund, der 17-jährige Titus, will ihn offenbar in einem Haus am Stadtwald in Sicherheit bringen. Und dann sagt Titus noch zu einer Begleiterin, dass er, Titus, verschwinden muss. "Sie" suchen ihn. Wer "sie" sind, sehen wir nicht.

Wir sehen nur, wie die Gefühle losbrechen. Mikes Vater (Andreas Pietschmann) brüllt, vor Sorge und vor Wut, weil Mike bereits seit drei Tagen verschwunden ist, als Paula Ringelhahn ihn mit Kollege Felix Voss (Fabian Hinrichs) besuchen kommt. Die Eltern leben getrennt und jeder dachte drei Tage lang, der Sohn sei beim anderen Elternteil.

Mikes Vater brüllt überhaupt sehr viel, der Choleriker fühlt schnell und intensiv und schreit das alles gleich aus sich heraus. "Vor dem Vater hätte ich auch Angst", wird Felix Voss später sagen. Der Kommissar sieht vor seinen Augen während der Ermittlungen regelmäßig einen kleinen verängstigten Jungen, den es gar nicht gibt. Jedenfalls nicht in dem Moment, in dem Voss – und mit ihm wir Zuschauer – ihn sieht.

Titus ist auch so einer, der sieht, was er fühlt. Verfolger zum Beispiel, vor denen er in der fraglichen Nacht aus dem Stadtwald bis nach Amsterdam flieht. Und weil er am nächsten Morgen nackt auf dem Bamberger Marktplatz liegt, kommt er in eine Klinik, wo sich im Bart des Arztes die Maden kringeln.

Die Mutter: Eine träumerische Ignorantin

Und dann ist da Titus' alleinerziehende Mutter (Bettina Hoppe), die die psychische Erkrankung ihres Sohnes wie ein Spiel behandelt, das erfordert, sich enthusiastisch mit in seine verwirrende Gefühlswelt hineinzuwerfen. Das kann man bewundern, darin kann man aber auch eine egoistische, an emotionalen Missbrauch grenzende Ignoranz sehen.

Paula Ringelhahn hingegen sieht vor lauter Liebe erstmal gar nichts. Bis sich herausstellt, dass ihr neuer Freund ein vom Dienst freigestellter Lehrer ist, den zwei Schüler des Missbrauchs beschuldigen. Weshalb er ins Zentrum von Felix Voss‘ Ermittlungen gerät. Paula aber fühlt so stark für Rolf, dass sie daraufhin auf eigene Faust verbissen Informationen zusammenträgt. Fest entschlossen, sich weder von der Liebe noch dem Misstrauen lenken zu lassen. Vergeblich: Es sind schreckliche Vorstellungen, die sich in ihr Blickfeld drängen, Bilder, die erst einmal nur die eigene Furcht gebiert – bis sie von der Realität eingeholt werden.

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"Wo ist Mike?": Vielmehr eine dramatische Geistergeschichte als ein "Tatort"

Wer seine Fälle lieber logisch aufbereitet bekommt, wird an "Wo ist Mike?" keine Freude haben. Dazu verzichtet die Geschichte von Drehbuchautor Thomas Wendrich auf zu viele Erklärungen – wir erfahren weder, warum ein angeblich 17-Jähriger sich ein Flugticket kaufen und ins Ausland fliegen kann, noch, woran genau Titus leidet. Das ganze Klinikambiente erinnert eher an eine Geistergeschichte als einen "Tatort": Weiß gekleidete Patienten und weiß gekleidetes Personal in einer Heilanstalt voll weißer Wände unterstreichen eine Atmosphäre, in der subjektive Wahrnehmungen mehr Gewicht haben als eindeutige Diagnosen.

Aber dieser Fall aus Franken ist ein fesselndes Drama, das seine Spannung vor allem aus der Angespanntheit aller Beteiligten bezieht. Und es ist eine Freude, besonders Fabian Hinrichs und Dagmar Manzel dabei zuzusehen, wie souverän sie die emotionale Bandbreite durchspielen, die die komplizierte Lage ihrem freundschaftlich-kollegialen Verhältnis abverlangt: Wie Felix Voss Paula Ringelhahn wegen ihrer Verliebtheit gerade noch verschmitzt aufziehen konnte. Wie daraus peinliche Berührtheit wird, weil die Gefühle so echt sind und wie verkrampft die Zusammenarbeit wird, als die Liebe den Ermittlungen im Weg zu stehen beginnt. Wie unsicher und furchtsam, als sich Zweifel einschleichen.

Regisseur Andreas Kleinert kann dieses bewundernswerte Kammerspiel der beiden Darsteller mühelos in die Dringlichkeit und Intensität einbetten, die seine Inszenierung von "Wo ist Mike?" beherrschen.

Und es lohnt sich, bei diesem "Tatort" genauer hinzuhören. Dem beruhigend herbstlichen Bamberg zu lauschen - den Schritten auf Pflasterstein, dem raschelnden Laub – ebenso wie den aufgewühlten Betroffenen: einem cholerischen Vater, einem verzweifelt auf sein Schlagzeug eindreschenden Titus.

Wer sich auf dieses kluge Zusammenspiel aus Tönen, Stimmungen und Ängsten einlässt, für den entfaltet "Wo ist Mike?" seine ganze Kraft.

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