Eine Drogenepidemie überzieht die USA. Hunderttausende sind süchtig nach Schmerzmitteln und Heroin. In einigen Regionen hat die Zahl der Menschen, die deshalb behandelt werden müssen, um 70 Prozent zugenommen. Im Herbst hat US-Präsident Donald Trump den Gesundheitsnotstand ausgerufen. Verbessert hat sich seitdem so gut wie nichts.

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Es ist ein Bild, das für das Elend von Hunderttausenden steht: Eine Frau und ein Mann hängen schief in den Sitzen eines Autos, die Münder weit offen. Am helllichten Tag schlafen sie ihren Heroinrausch aus. Auf der Rückbank sitzt ein kleiner Junge, allein gelassen. Keiner kümmert sich um ihn.

Es ist der vier Jahre alte Enkel der Frau. Aufgenommen hat das Foto die Polizei in East Liverpool, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Ohio. Den Jungen gaben die Behörden nach dem jüngsten Vorfall in die Obhut seiner Großtante. Der Mutter war bereits zuvor wegen ihrer Drogenabhängigkeit das Sorgerecht entzogen worden.

Wie der Familie, die durch das Foto der Polizei im Herbst traurige Berühmtheit erlangte, ergeht es derzeit vielen Familien in den Vereinigten Staaten. Eine Drogenepidemie grassiert.

Mehr als 140.000 Menschen sind nach Angaben der US-Gesundheitsbehörde CDC zwischen Juli 2016 und September 2017 in Krankenhäuser gebracht worden, weil sie Drogen überdosiert hatten. Ein Plus von 30 Prozent. Im Mittleren Westen betrug der Anstieg sogar 70 Prozent. Auch in den Großstädten von 16 Bundesstaaten stiegen die Zahlen überproportional an.

Insgesamt seien 2016 mehr als 63.000 Menschen an Drogen gestorben, teilte die Behörde mit. 42.000 davon starben an Opioiden, sprich morphinhaltige Substanzen wie Heroin, aber auch Schmerzmittel wie Oxycodon, Hydrocodon und das Betäubungsmittel Fentanyl.

Pharma-Industrie machte Pillen beliebt

Die Ursachen sind in den 1990er Jahren zu suchen. Timo Bonengel, der an der Universität Erfurt zu Drogenkonsum und öffentlicher Gesundheit in den USA forscht, nennt eine Kampagne der Pharmaindustrie zusammen mit einer zu liberalen Verschreibungspraxis von Ärzten als Auslöser des Übels.

"Einige Studien und Medien kritisieren die leichte Verfügbarkeit und zu hohe Verschreibungsrate der Schmerzmittel", erklärt der 30-Jährige vom Lehrstuhl für nordamerikanische Politik.

Andrew Kolodny vom Opioid Policy Research Center der Brandeis University schreibt in einem Aufsatz, die Pharmaindustrie habe den Ärzten weisgemacht, "dass Patienten unnötig litten, weil es eine Angst davor gebe, Opioide zu verschreiben".

Der Lobbyismus verfehlte seine Wirkung nicht: Seit 1999 hat sich die Zahl der Schmerzmitteltoten laut "Zeit Online" vervierfacht. Marktführer Oxycontin konnte seine Verkäufe zwischen 1996 und 2010 von 45 Millionen auf 3,1 Milliarden Dollar steigern.

Bereits Kinder und Teenager werden mit suchtfördernden Schmerzstillern behandelt - häufig ohne Not. Einige Ärzte verschreiben ihren Patienten Pillen wie andere Süßigkeiten verschenken, auch, weil US-Krankenversicherer die billigeren, opiumhaltigen Schmerzmittel den teuren, weniger süchtig machende Alternativen vorziehen.

Mehr Tote durch Drogen als durch Verkehrsunfälle

Bei den unter 50-Jährigen ist Opioidsucht inzwischen die häufigste Todesursache. Es sterben mehr Menschen durch Drogen als durch Verkehrsunfälle. Etwa 2,7 Millionen Amerikaner gelten als abhängig.

Viele steigen mit Schmerz- oder Betäubungsmitteln ein. Die sind ebenso leicht zu bekommen - vom Arzt oder auf dem Schwarzmarkt - wie gefährlich: Das Suchtpotenzial des Betäubungsmittels Fentanyl zum Beispiel liegt 50 bis 100 Mal höher als das von Heroin. Werden die Pillen pulverisiert eingenommen, steigt die Wirkung um ein Vielfaches.

Erst Tabletten, dann die Spritze - so sehen viele Drogenkarrieren in den USA aus. Denn wer sich die verschreibungspflichtigen Medikamente nicht mehr leisten kann, steigt häufig auf Heroin um. Das ist auf der Straße noch billiger erhältlich, für etwa zehn Dollar pro Briefchen.

US-Studien zeigen, dass drei von vier Heroinabhängigen, die nach der Jahrtausendwende süchtig geworden sind, mit verschriebenen Opioiden angefangen haben.

Donald Trump lässt Strategie vermissen

US-Präsident Donald Trump spricht von der schlimmsten Drogenkrise der US-Geschichte. Doch de facto ist wenig geschehen, seit er im Herbst Gegenmaßnahmen angekündigt hat.

Trump hat lediglich den "nationalen Gesundheitsnotstand" erklärt, keinen "nationalen Notstand" ausgerufen, wie ursprünglich angekündigt. Der feine Unterschied: In letzterem Fall hätten die Bundesstaaten sofort Bundesmittel abrufen können, um etwa das Überdosis-Gegenmittel Naloxon, an dem es im ganzen Land mangelt, im größeren Stile anzukaufen.

So aber wurden nur 57.000 Dollar freigegeben. Trump habe dem Land "ein Pflaster geboten, obwohl wir die Wunde abbinden müssten", klagte der demokratische Senator Edward Markey.

Auch an anderer Stelle blieb der Präsident zaghaft. "Trump wurde von einer Kommission unter anderem empfohlen, die Budgets für die Gesundheitsbehörden zu erhöhen, mehr Therapieplätze zu schaffen und einen leichteren Zugang zu Therapieplätzen über die Krankenversicherung Medicaid für Einkommensschwache zu gewährleisten", erklärt Drogen-Forscher Bonengel. Das sei durch die jüngste Gesundheitsreform aber eher erschwert worden. "Insofern widerspricht das den Empfehlungen", sagt er.

Eine Strategie zur Bekämpfung der Krise lässt Trump bislang vermissen.

Familien werden zerstört, die Wirtschaft leidet

Während die Heroin-Wellen der 70er- und 80er-Jahre vor allem in den Ghettos der Innenstädte wüteten, ist die Opioid-Epidemie eher in den ländlichen Regionen mit mehrheitlich weißer Bevölkerung ein Problem.

Es sind Gebiete, die wirtschaftlich ausgeblutet sind und die sich kaum erholt haben von der großen Rezession vor zehn Jahren. Aber auch die Großstädte hat die Epidemie mittlerweile erfasst.

Für die betroffenen Gemeinden sind die Folgen oft katastrophal. Eltern lassen sich und ihre Kinder verwahrlosen. Familien werden auseinandergerissen, weil der Staat Müttern und Vätern das Sorgerecht entziehen muss oder diese an ihrer Sucht sterben.

Laut Studien ist auch die US-Wirtschaft betroffen. Seit Jahren sinkt die Erwerbsquote. Lag sie im Jahr 2000 noch bei 67,3 Prozent, war sie 2015 auf einem 40-Jahres-Tief von 62,4 Prozent.

Ihre Sucht halte zehn Prozent der US-Bevölkerung vom gesellschaftlichen Aufstieg ab, schreibt der Ökonom Alan B. Krueger von der Universität Princeton in einer Studie. Millionen Amerikaner im besten Alter würden sich wegen ihrer Drogenprobleme nicht bewerben oder fortbilden.

Und: Viele Berufe bleiben verschlossen für Menschen, die einmal wegen Missbrauchs registriert wurden.

Donald Trump hat häufig an seinen mit 41 Jahren an Alkoholismus verstorbenen Bruder Fred erinnert, wenn er vom Kampf gegen die Drogen sprach. Doch emotionale Worte werden nicht reichen, um dem Problem Herr zu werden.

Um die Sucht nachhaltig zu bekämpfen, müssten die Verantwortlichen viel Geld in die Hand nehmen: Wissenschaftler und Ärzte gehen laut "Süddeutscher Zeitung" von sechs Milliarden US-Dollar pro Jahr aus.

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