• Ein neues Projekt will Städte und Gemeinden bei der Umsetzung von mehr Bürgerbeteiligung unterstützen.
  • Bei "Losland" machen zehn Kommunen unterschiedlicher Größe mit, von 1000 bis 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern.
  • Zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger sollen Empfehlungen zum Thema "Enkeltaugliche Zukunft" entwickeln - zum Beispiel in Gütersloh.

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Leupoldsgrün in Bayern hat gut 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner, Gütersloh in Nordrhein-Westfalen rund 100.000: Beide Orte machen als kleinste und größte Kommune bei "Losland" mit.

Das Projekt des Vereins "Mehr Demokratie" und des Potsdamer Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) begleitet zehn Städte und Gemeinden beim Ausprobieren von mehr Bürgerbeteiligung. Konkret ist vorgesehen, dass ausgeloste Personen Empfehlungen zum Thema "Enkeltaugliche Zukunft" entwickeln.

Norbert Morkes, seit 2020 Oberbürgermeister von Gütersloh - wo große Konzerne wie Bertelsmann und Miele ihren Sitz haben -, sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Es geht um Fragen wie: Wie setzen wir unsere Finanzen ein, damit wir unseren Enkeln hinterher nicht einen großen Schuldenberg hinterlassen? Wie bekommen wir eine Verkehrswende hin, ohne auf einer Seite Verlierer zu haben?" Der Politik falle es oft schwer, Verantwortung abzugeben, so der 70-Jährige, der keiner klassischen Partei angehört und von Beruf Kultur- und Eventmanager ist.

Wie bei den anderen Kommunen auch wurden in der westfälischen Stadt auf Grundlage des Einwohnermelderegisters zufällig Personen ausgewählt, wobei Filterkriterien wie Stadtbereiche, Alter und Geschlecht eine gewisse Vielfalt sicherstellen sollen. Gütersloh setzt auf eine Gruppe von 25 Personen, schreibt aber insgesamt 750 Personen an, um sicherzustellen, dass trotz Absagen genug Leute zusammenkommen.

Dieser Bürgerrat trifft sich dann an zwei Tagen Mitte September, um sich mit der Leitfrage "Enkeltaugliches Gütersloh – wie und was können wir in Gütersloh teilen, um zusammen nachhaltiger zu leben?" zu beschäftigen. Anschließend gibt es nicht nur ein "Zukunftsforum" als Präsenzveranstaltung, sondern auch eine Internetplattform. Beides steht allen Bürgerinnen und Bürgern zur Diskussion und Weiterentwicklung der Vorschläge der 25er-Gruppe offen. Deren Ergebnisse werden zudem öffentlich in der Stadtbibliothek ausgestellt, wo man ebenfalls eigene Ideen ergänzen kann.

Bürgerräte sollen für mehr Beteiligung sorgen

Am Ende befasst sich der Stadtrat mit der "Umsetzungsempfehlung", annehmen muss er sie nicht. Ist Enttäuschung da nicht wie bei anderen Beteiligungsformaten, die es in Deutschland von Zeit zu Zeit gibt, programmiert?

Bürgermeister Morkes will dem Verfahren nicht vorweggreifen und betont, es handle sich erst einmal um ein Pilotprojekt. Zudem seien Bürgerbegehren in Gütersloh schon mehrfach erfolgreich gewesen. "Ich persönlich würde mir Volksentscheide wie in der Schweiz oder anderswo wünschen, aber so weit ist unser Land bedauerlicherweise noch nicht."

Der ganze Prozess wird von einer sogenannten Steuerungsgruppe begleitet, die aus Mitgliedern von Rat und Verwaltung sowie dem Projektpartner "Losland" besteht. Moderiert wird der zweitägige Bürgerrat wiederum von einem externen Team. "Politik wird gut, wenn Menschen aus verschiedenen Bereichen und Gesellschaftsschichten einen direkten Draht zur Verwaltung haben und man sich gemeinsam fragt: Was können wir in dieser Stadt verändern?", sagt Morkes. Der Verein "Bürger für Gütersloh" (BfGT), dem er angehört, ist mit sieben Personen plus ihm selbst im Stadtrat vertreten.

Oft machen nur die mit, die es sich zeitlich und finanziell leisten können

Diesen von dem Projekt zu überzeugen sei anfangs schwer gewesen, erläutert der gebürtige Schleswig-Holsteiner. Politikerinnen und Politiker müssten sich aber manchmal einfach damit abfinden, dass die Bürger mitentscheiden. "Wir müssen auch die Menschen mitnehmen, die anderer Meinung sind als wir selbst, damit wir da, wo wir leben, wirklich vorankommen und unsere Städte weiterentwickeln können", so der BfGT-Vorsitzende.

Die Zukünft dürfe nicht nur von Lobbyisten bestimmt werden. Vielmehr sei wichtig, auch Menschen einzubeziehen, die normalerweise vielleicht nicht oder nicht immer die Möglichkeit haben, sich aktiv einzubringen. Das ist allgemein ein Problem, wann immer es um Bürgerbeteiligung geht: Meistens machen nur die mit, die es sich zeitlich oder finanziell auch leisten können. Prekär Beschäftigte, Eltern mit Kindern oder Menschen, die Verwandte pflegen müssen, haben es oft schwerer.

Bisherige Projekte hatten keine weitreichenden Auswirkungen

Die Stadt Gütersloh zahlt Teilnehmenden pro Sitzungstag eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 50 Euro, im Einzelfall sind zudem Unterstützungsangebote wie Kinderbetreuung oder Fahrdienste möglich. Für Speisen und Getränke ist beim Bürgerrat ebenfalls gesorgt. Bis Ende des Jahres sollen die Vorschläge dann in den Stadtrat eingebracht werden.

Weitreichende Auswirkungen haben Bürgerräte hierzulande anders als etwa in Irland, wo sie zur Abschaffung des Abtreibungsverbots und der Zulassung der gleichgeschlechtlichen Ehe führten, bisher meist nicht. Beim bundesweiten Bürgerrat "Deutschlands Rolle in der Welt", an dem der "Mehr Demokratie e.V." ebenfalls beteiligt war, standen 2021 am Ende Gespräche mit dem damaligen Außenminister Heiko Maas (SPD) und Verantwortlichen aus den zuständigen Ausschüssen des Bundestags. Zur Abstimmung gestellt wurde aber keiner der erarbeiteten Vorschläge.

Der Verein will in Zukunft deshalb mehr darauf achten, dass im Voraus konkret festgelegt wird, wie die Politik am Ende mit dem Ergebnis solcher Beteiligungsprojekte verfährt. Aktuell gibt es beispielsweise in Berlin einen "Bürgerrat für mehr Klimaschutz", der Ende Juni 50 Empfehlungen vorlegte.

OB von Gütersloh: "Auch diejenigen mitnehmen, die dem Ganzen vielleicht kritisch gegenüberstehen."

In Gütersloh hofft Oberbürgermeister Morkes mit Blick auf die heutzutage allgemein stark individualisierte Gesellschaft, dass das Projekt "Losland" zum Zusammenhalt beiträgt: "Es wäre schön, wenn wir wieder dazu zurückkehren, uns gemeinschaftlich mehr für unsere Stadt beziehungsweise unseren Lebensraum zu interessieren und nicht immer nur an das Individuelle zu denken."

Die Herausforderung sei, bei Veränderungen wie in den großen Bereichen Umwelt und Verkehr "nicht nur mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, sondern auch diejenigen mitzunehmen, die dem Ganzen vielleicht kritisch gegenüberstehen."

Verwendete Quellen:

  • Guetersloh.de: Der Rat der Bürger und Bürgerinnen ist gefragt; Bürgerschaftliches Engagement ist Chef*innensache
  • Mehr-Demokratie.de: Per Los in die Zukunft
  • Losland.org: Gütersloh und Losland
  • Mitmachen-Losland.org: Gütersloh
  • BFGT.de (Bürger für Gütersloh): Sachkundige Bürger*innen
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