• Weil er zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes aufgefordert wurde, hat ein 49-Jähriger einen Tankstellenkassierer im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein erschossen.
  • Der Täter Mario N. galt als Corona-Leugner mit kurzer Zündschnur.
  • Ist die Bluttat ein Einzelfall oder hat sich die Querdenker-Bewegung radikalisiert?

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Auch Tage nach den Ereignissen im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein sorgt die Bluttat von Mario N. bundesweit für Entsetzen: Weil der 49-Jährige – so der aktuelle Ermittlungsstand - von dem Tankstellenkassierer Alexander W. zum Tragen einer medizinischen Maske aufgefordert wurde, erschoss Mario N. den 20-Jährigen Studenten.

Neben Entsetzen und Anteilnahme wirft die Tat auch Fragen auf: Ist die Tat von Mario N. ein Einzelfall? Oder ist sie gar Ausdruck einer radikalisierten Querdenken-Bewegung, die weitere Anhänger anstacheln könnte?

Aufrufe zu Angriffen

Simone Rafael ist Expertin für Demokratiegefährdung bei der Amadeu-Antonio-Stiftung. Sie beobachtet die Bewegung der Corona-Leugner seit ihren Anfängen. “Die "Querdenken“-Bewegung ist 2021 deutlich geschrumpft, aber diejenigen, die jetzt noch dabei sind, sind der radikalisierte Kern”, ist sich Rafael sicher. Auf Social Media gehörten Aufrufe zum Umsturz in der Pandemieleugner-Szene inzwischen dazu.

“Aufrufe für Angriffe auf Schulleiter, die auf Maskenpflicht bestehen, oder auf Impfzentren werden verbreitet, auf den Demonstrationen werden Polizisten und Polizistinnen – bisher als Verbündete angesprochen – angegriffen, Journalisten und Journalistinnen sowieso”, weiß Rafael.

Tat in Idar-Oberstein ist “Spitze der Eskalation”

Die Tat in Idar-Oberstein: Für Rafael nur die traurige Spitze der Eskalation. “Die Gewaltbereitschaft und das Gefühl des Handlungszwangs nehmen zu”, hat sie beobachtet.

Wie die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” im Gespräch mit Nachbarn des Festgenommenen erfuhr, galt Mario N. als Corona-Leugner mit “sehr kurzer Zündschnur”. Zwar war N. bei Polizei und Verfassungsschutz noch nicht in Erscheinung getreten, Nachbarn beschreiben ihn jedoch als “hoch aggressiv”, berichten von Streitigkeiten wegen Banalitäten, wütenden Beschimpfungen durch Mario N.

Corona nur das i-Tüpfelchen?

“Ich glaube, dass Corona nur das i-Tüpfelchen war”, sagte eine Nachbarin gegenüber der “FAZ”. Ist die Bluttat damit Gewalt, die nur mit einer Anti-Corona-Haltung legitimiert wird?

Rafael beschreibt die Pandemieleugner als “Menschen, die auf eine unsichere Situation nicht mit Nachdenken, Vorsicht und Rücksichtnahme reagieren, sondern mit Verschwörungserzählungen, die sie aufwerten, damit sie sich besser fühlen.”

Widerstands-Narrativ zentral

Ein Preis dieses Verschwörungsglaubens sei eine apokalyptische Welt, in der Politik, Presse und Wissenschaft lügen, betrügen und zum eigenen Vorteil agieren. “Und in dieser Welt wollen nur wenige die Wahrheit sehen”, erklärt Rafael.

Das “Widerstands”-Narrativ sei zentral, die gewählte liberale Parteiendemokratie werde in der Szene als feindlich, willkürlich und diktatorisch dargestellt. “Oft genug ja sogar als eine Wiedergeburt des Nationalsozialismus. Das wird gezielt genutzt, um Gewalt zu legitimieren”, meint Rafael.

Rechtsextreme Erzählungen

“Das schafft Handlungszwang. Dazu kommen die rechtsextremen Erzählungen, von denen sich die Szene nie abgegrenzt hat: "Das Volk“ werde durch Migration "ausgetauscht“, ein unbekannter, jüdisch konnotierter "tiefer Staat“ schaffe eine "Neue Weltordnung“, "die Politik“ wolle all dies – so werden Feindbilder angeboten”, erinnert die Expertin.

Potentielle Gewalttäter seien bei Weitem nicht alle, die Corona-Maßnahmen kritisierten. Sie stellt klar: “Kritik an Corona-Maßnahmen gehört zum demokratischen Diskurs dazu – solange deren Intention ist, die Lage zu verbessern, gemeinsam Lösungen für die kritisierten Zustände zu suchen.”

Gefahr für die Demokratie

Diese Kritik müsse aber unter Achtung der Rechte aller Menschen, ohne Rücksichtslosigkeit oder Fahrlässigkeit, ohne die Suche nach Sündenböcken, ohne Rassismus und Gewalt erfolgen. “Querdenker” tun das in den Augen von Rafael nicht: “Sie suchen keine Lösungen, sie verbreiten Verschwörungsideologien, die letztendlich eine Abschaffung der Demokratie propagieren, verharmlosen den Holocaust, in dem sie sich mit Juden und Jüdinnen im Dritten Reich gleichsetzen”, so die Expertin.

Die Gefahr, die von diesen Gruppen ausgeht, ist aus Sicht der Expertin deshalb groß. “Wenn sich Menschen von ihren Grundlagen wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Minoritätenschutz und faktenbasiertem Wissen entfernen, ist die Gefahr für die Demokratie groß”, sagt Rafael.

Gewalt als Problemlösung

In den verschwörungsideologischen Szenen werde Gewalt als Problemlösung propagiert. “Ein Gewalttäter mit Zugang zu Waffen reicht, um großen Schaden anzurichten”, erinnert Rafael. Jetzt habe es einen Mord durch einen rechtsextrem radikalisierten, pandemieleugnenden, aber polizeilich völlig unbekannten Mann gegeben. “So wie er sind viele im Querdenken-Spektrum", ist sich Rafael sicher. “Nur hatte er schon illegale Waffen zu Hause, war bereit zu töten”, sagt sie.

Dass etwas wie in Idar-Oberstein passiert ist, kommt für Rafael deshalb nicht völlig aus dem Nichts. “Es war klar, dass es Gewaltaufrufe gab und dass es "Wir sind im Widerstand, der Zweck heiligt die Mittel“-Narrationen gab”, erinnert sie.

Feindbild: Menschen im Alltag

Es sei außerdem relativ logisch, dass es schwieriger sei, geschützte Politiker oder Wissenschaftler anzugreifen als Menschen im Alltag, die als Feindbilder wahrgenommen würden. “Aber eine gezielte Hinrichtung mit Kopfschuss gegen einen Kassierer in einer Tankstelle, der nichts tat als seinen Job – nein, das habe ich in dieser Verrohtheit und Menschenverachtung trotzdem nicht kommen sehen. Zumindest nicht kommen sehen wollen”, gibt sie zu.

Ob und wie viele Taten folgen würden, lasse sich nicht vorhersagen. Doch die Antwort, auf die Frage, ob sich der Fälle wie in Idar-Oberstein wiederholen könnten, ist klar: “Leider muss die Antwort lauten: Ja”, sagt Rafael.

Wiederholung möglich

Es gäbe viele Menschen, die sich in der Pandemie Verschwörungswelten zugewandt hätten. “Oft im Internet, was auch heißen kann: ohne dass anderen Menschen auffällt, wie sehr sie sich bereits verrannt haben”, sagt Rafael. Dass diese Szene von Rechtsextremen gezielt angesprochen und unterwandert werde, mache die Lage nicht besser.

“Wir können also kaum wissen, wann und wo sich wieder jemand bis zur Gewalttat radikalisiert. Alles, was wir tun können: Aufmerksam sein, im privaten Umfeld widersprechen – und bei Verdachtsmomenten Strafverfolgungsbehörden hinzuziehen”, mahnt sie.

Über die Expertin:
Simone Rafael ist Publizistin und Kunsthistorikerin. Sie leitet bei der Amadeu Antonio Stiftung alle Projekte, die sich mit Demokratiegefährdung online und gesellschaftlichen Gegenstrategien befassen.

Verwendete Quellen:

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