Das Coronavirus trifft die indigenen Völker im Amazonasgebiet besonders hart. Die Schutzorganisation Survival International befürchtet sogar, dass das Virus einige Völker ganz auslöschen könnte.

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Die Vereinten Nationen widmen allen indigenen Bevölkerungsgruppen seit 1994 am 9. August einen Gedenktag. Weltweit werden, so die Organisation, rund 370 Millionen Menschen indigenen Bevölkerungsgruppen zugerechnet. Doch ihre Lebensgrundlage ist zunehmend bedroht: durch den zunehmenden Abbau natürlicher Ressourcen, die Folgen des Klimawandels und die fehlende Anerkennung ihrer Rechte. In Südamerika und vor allem in Brasilien zusätzlich durch einen rücksichtslosen Präsidenten und das Coronavirus.

Dieses trifft die indigenen Völker im Amazonasgebiet hart, besonders die Völker aus Brasilien, Peru und Kolumbien, wie die Indigenen-Vereinigung "APIB" berichtet.

Die Schutzorganisation Survival International befürchtet sogar, dass das Virus einige Völker ganz auslöschen kann. "Indigene Gemeinden auf der ganzen Welt haben mit einer Vielzahl von Gefahren zu kämpfen. Die Pandemie könnte die Gefahr sein, die manche Völker nicht überleben werden", sagt Survival-Mitarbeiter Niklas Ennen im Gespräch mit unserer Redaktion.

Coronavirus verbreitet sich im Amazonasgebiet zu schnell

Doch zurück zum Anfang. Den ersten COVID-19-Fall registrierten die Gesundheitsbehörde der Amazonas-Metropole Manaus am 13. März dieses Jahres. Ein Handlungsreisender, der geschäftlich im Vereinigten Königreich zu tun hatte, hatte den Erreger eingeschleppt. Und er verbreitete sich rasant. Im Handumdrehen waren die Bettenkapazitäten der Krankenhäuser ausgeschöpft, Ärzte und Pfleger kamen nicht mehr hinterher, Friedhöfe wurden zu Massengräbern.

Von Manaus aus verbreitete sich das Virus in die entlegenen Gebiete entlang des Flusses, an und von dem mehr als 30 Millionen Menschen leben, wo die medizinische Versorgung aber dünn ist. Viele Orte im Inneren der Region werden nur von medizinischen Teams auf Booten besucht. Ebenso können Infizierte und Verdachtsfälle nur mit dem Boot in die nächste Stadt gebracht werden, in der Hoffnung auf einen Arzt.

In den abgelegenen Regionen, in denen indigene Völker leben, ist die medizinische Versorgung sehr schlecht. Die Fahrt zum nächsten Krankenhaus ist lang und beschwerlich. Die durchschnittliche Entfernung indigener Gemeinschaften zu Intensivstationen beträgt laut der Plattform InfoAmazonia 315 Kilometer. Und selbst dort gibt es häufig keine Betten für die Intensivpatienten, es fehlen Beatmungsgeräte, medizinisches Fachpersonal ist rar und es mangelt an Medikamenten. Das Gesundheitssystem ist einfach überfordert.

Coronavirus: Amazonasgebiet weist die höchsten Zahlen auf

Inzwischen befinden sich sechs Städte mit dem höchsten Corona-Befall am Amazonas. Auffällig auch: Hier, wo die medizinische Versorgung wesentlich schlechter ist als in den reicheren Metropolen des Südens – Sao Paulo, Rio de Janeiro, Belo Horizonte, Porto Alegre – ist die Todesrate wesentlich höher. Im Städtchen Tefé zum Beispiel ist sie 3,6-mal so hoch wie im brasilienweiten Durchschnitt.

"Auch wenn es etwas länger gedauert hat, bis das Virus in die indigenen Gemeinden vorgedrungen ist, sind die Folgen jetzt umso schlimmer", sagt Ennen. "Die indigenen Völker sind durch das Virus besonders bedroht. Zum einen ist die Gesundheitsversorgung im Ansteckungsfall häufig katastrophal oder weit weg, zum anderen haben Indigene eine höhere Rate an Vorerkrankungen, die meist durch Landraub verursacht wurde. Das macht sie anfälliger für einen schweren Krankheitsverlauf."

In Brasilien sind besonders das Xingu-Becken und das Javari-Tal, das die höchste Konzentration unkontaktierter Völker weltweit hat, betroffen. Als Gruppe besonders gefährdet sind die kürzlich kontaktierten Völker, wie die Arara. Die Arara im Cachoeira-Seca-Territorium hatten laut der Hilfsorganisation schon Anfang Juli eine Infektionsrate von 62 Prozent.

Vor dem Virus schützen können sich die Völker kaum. Eine Strategie vieler indigener Völker ist es, sich zu isolieren, also den Kontakt zur Außenwelt zu minimieren. Das klingt erstmal einfacher als es in Wirklichkeit ist. Viele Indigene haben regelmäßigen Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft. Hinzu kommt, dass viele Eindringlinge in den indigenen Gebieten verkehren. "Nur, wenn die Regierungen Schritte unternehmen um illegale Eindringlinge fernzuhalten, kann die Isolation und somit der Schutz indigener Völker funktionieren", sagt Ennen.

Brasilianische Regierung zeigt sich rücksichtslos

Aber die Regierung hat daran wenig Interesse. Es war Präsident Jair Bolsonaro selbst, der Umweltgesetze lockern ließ und damit Glücksritter gewissermaßen dazu ermutigte, sich des Regenwalds und insbesondere der Schutzgebiete zu ermächtigen. Viele vermuten dort wertvolle Bodenschätze, vor allem Gold.

Zudem hatte er bald nach seinem Amtsantritt die staatliche Indigenenbehörde FUNAI teilweise dem Agrarressort unterstellt – ein deutlicher Fingerzeig in Richtung politischer Prioritätensetzung. Darüber hinaus wurde das Budget der FUNAI erheblich zusammengestrichen, was die Arbeit erschwert.

COVID-19: Sehr hohe Sterblichkeit

Die Gefahr für die indigenen Völker ist enorm, wenn das Virus in ihre Gemeinschaft eingeschleppt wird. Berichten zufolge bricht in manchen Gebieten eine regelrechte Panik aus. "Die Sterblichkeit bei COVID-19-Erkrankungen ist unter den Indigenen in Brasilien doppelt so hoch wie in der restlichen Bevölkerung", sagt Ennen.

Viele indigene Völker leben in eng verbundenen Gemeinschaften, was die Isolation eines Erkrankten erschwert - die Übertragungsrate innerhalb eines Dorfes dürfte beträchtlich sein. Dazu kommt, dass die Betroffenen ihre gesellschaftlichen Aufgaben nicht mehr übernehmen können, was die Dorfgemeinschaft als Ganzes schwächt.

Deshalb ziehen die indigenen Völker sich weit in ihre Gebiete zurück, um nicht in Kontakt mit dem Virus zu kommen. Die Arara fordern zudem eine Ausweisung aller Eindringlinge aus ihren Gebieten.

Auch die Yanomami in Brasilien haben vor kurzem eine Petition gestartet, welche die Ausweisung von etwa 20.000 Goldgräbern aus ihrem Gebiet fordert. Dieser Aufruf wird auch von Survival International unterstützt. Goldgräber gelten als gewaltbereit, zerstören den Wald und die Flüsse der Yanomami und schleppen dazu noch das Coronavirus ein.

Politische Maßnahmen zum Schutz der indigenen Völker nicht ausreichend

Jeder Kontakt stellt ein mögliches Infektionsrisiko dar, welches es zu vermeiden gilt. In jedem Fall müssen ihre Landrechte respektiert werden. Eine Maßnahme, die auch in "normalen" Zeiten für ihr Überleben zentral ist.

Inzwischen hat das Militär angefangen, sich in der Region – trotz einer zuständigen vorhandenen Behörde – ebenfalls um die Versorgung der Indigenen zu kümmern. Survival International sieht das kritisch. "Den Einsatz des Militärs bei inneren Angelegenheiten sollte man immer kritisch hinterfragen", sagt Ennen. "Wenn die Armee jedoch helfen kann, das Plündern von Rohstoffen und die Zerstörung in indigenen Territorien zu unterbinden und Hilfsgüter zu den indigenen Menschen zu bringen, kann dies vertretbar sein. Leider ist es manchmal auch notwendig, da viele illegale Siedler nicht gerade zimperlich sind."

Denn: Viele Menschen dringen derzeit in die geschützten Gebiete der indigenen Bevölkerung ein, seien es christliche Missionare, Holzfäller oder Goldgräber. Diese Entwicklung wird natürlich durch die Aussagen von Bolsonaro, der das Amazonasgebiet zur wirtschaftlich auszubeutenden Region erklärt hat, angeheizt. Indigene Völker lehnen diese Politik überwiegend ab und fürchten um ihr Leben und das ihrer Familien, da Bolsonaro die wirtschaftlichen Interessen des Landes über die Landrechte der Indigenen stellt.

Kritiker sehen die politischen Maßnahmen zum Schutz der Indigenen als halbherzig oder gar Alibi-mäßig an. Der Fotograf Sebastiao Salgado, der 2019 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekam, warnte schon im Mai eindringlich, dass Corona für viele indigene Völker das Ende bedeuten könne. "Viele indigene Vertreter und Sprecherinnen sehen in der aktuellen Politik in Brasilien einen Genozid. Wir finden: zu Recht", sagt Ennen.

"Bolsonaro macht keinen Hehl daraus, dass er indigene Völker lieber ausgerottet sieht. So sieht auch seine Politik aus. Es ist gut, wenn Gerichte deutliche Worte finden, denn es geht für viele indigene Völker in Brasilien ums Überleben."

Der Begriff "Indigene Völker" ("indigenous peoples") wurde erstmals 1986 vom UN-Sonderberichterstatter José Martínez-Cobo verwendet und bedeutet in etwa "in ein Land geboren". Eine völkerrechtlich verbindliche Definition gibt es nicht. Als indigene Völker werden meist die Nachfahren der Erstbewohnerinnen und -bewohner einer Region bezeichnet, welche das gegenwärtige Territorium eines Landes bereits bewohnten, bevor Menschen mit einer anderen Kultur oder aus anderen Teilen der Welt dort ankamen. In vielen Fällen unterwarfen oder vertrieben die Neuankömmlinge die dort ansässigen Völker und versetzten sie durch Eroberung, Besiedlung oder mit anderen Mitteln in eine untergeordnete oder koloniale Situation.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Niklas Ennen von Survival International
  • Bischöfliches Hilfswerk Adveniat: "Sie rotten uns aus" Indigene in der Corona Krise"
  • Homepage des Bayrischen Rundfunks: "Wie Bolsonaros Corona-Politik das Leben der Indigenen Brasiliens bedroht"
  • Homepage der staatlichen Indigenbehörde FUNAI
  • Interaktive Reportage der NYTimes
  • Plattform InfoAmazonia
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