Das Computerspiel "Fortnite" ist mit mehr als 250 Millionen registrierten Nutzern sehr beliebt, vor allem bei Jugendlichen, die es stundenlang spielen. Doch wie groß ist die Gefahr, dass das Game süchtig macht? Das erklärt der Oberarzt und Suchtexperte Frank Fischer. Er gibt außerdem Tipps, woran man Suchtverhalten bei Computerspielern erkennt und wie Angehörige reagieren sollten.

Ein Interview

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Der Spieler springt mit einem Fallschirm über einer Insel ab. Die bunte Comicwelt täuscht, denn hier geht es nicht friedlich zu. Zeitgleich landen 99 weitere Kontrahenten. Alle müssen sich gegenseitig bekämpfen, alleine oder in Teams. Wer am Ende übrig bleibt, hat gewonnen. Das ist das Spielziel des Games "Fortnite" mit dem beliebtesten Modus "Battle Royale".

Mehr als 250 Millionen Menschen hatten sich bis März bei dem Game angemeldet, darunter viele Jugendliche. Aber wie gefährlich ist es, wenn diese sich stundenlang mit dem Spiel beschäftigen? Und wie groß ist das Suchtpotenzial von "Fortnite"?

Frank Fischer ist Oberarzt am Kinderkrankenhaus "Auf der Bult" in Hannover und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie sowie Suchtmedizin. Er hat in Hannover die Leitung, Forschung und Konzeptentwicklung im Bereich Suchttherapie bei Jugendlichen inne. Außerdem hat er ein Buch zum Thema "Sucht, Trauma und Bindung bei Kindern und Jugendlichen" verfasst.

Fischer erklärt im Interview, worin der Reiz liegt, "Fortnite" zu spielen und welche Rolle die bunte Grafik und die Tatsache spielen, dass es sich um einen Shooter handelt. Außerdem erläutert er, woran Angehörige ein Suchtverhalten erkennen und wie sie reagieren sollten.

Herr Fischer, wie hoch ist das Suchtpotenzial von "Fortnite" wirklich?

Frank Fischer: Es ist immer schwer zu beweisen, dass ein Computerspiel besonderes "Suchtpotenzial" hat. Es ist klarer, grundsätzliche Faktoren anzusprechen, die dazu beitragen können, dass man überhaupt von einem PC-Game abhängig werden kann. Dazu gehören einerseits Risikofaktoren, die das spielende Individuum betreffen, und andererseits Risikofaktoren, die besondere Spiele mit sich bringen und typisch sind für bestimmte Genres.

Was sind denn individuelle Risikofaktoren?

Dazu gehören Persönlichkeitsmerkmale und belastende psychische Störungen, die durch das PC-Spielen "betäubt" beziehungsweise vermieden werden. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Jugendlicher an einer sozialen Phobie leidet, also sich unsicher im sozialen Kontakt fühlt, Mobbing-Erfahrungen gemacht oder Versagensängste in der Schule hat.

Beim PC-Spiel macht er womöglich die Erfahrung, dass seine Ängste ausgeblendet sind, dass er seine Probleme vergisst, dass der virtuelle Kontakt zu anderen leichter gelingt, und er hat Erfolgserlebnisse. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Jugendliche irgendwann nicht mehr regelmäßig zur Schule geht, nicht mehr beim Fußball auftaucht, keine realen Freunde mehr trifft, sondern lieber den ganzen Tag PC spielt.

Denn einerseits kann er im Spiel seine Ängste vermeiden, andererseits macht er positive Erfahrungen, die ihm im Alltag fehlen. Hier wird deutlich, wie sich Faktoren vermischen, also die Disposition des Spielers und die Eigenschaften des PC-Games, das sich eben mehr oder weniger eignet, die dysfunktionale Disposition des Spielers zu kompensieren.

Unterscheidet sich "Fortnite" beim Suchtpotenzial von anderen Computerspielen?

Will man einzelne Spiele bezüglich ihres "Suchtpotenzials" beurteilen, sollte man fragen, inwiefern sie die beiden genannten Faktoren bedient. Eine Rolle spielen dabei unter anderem ein schneller Erfolg mit Levels oder eine einnehmende Fantasiewelt mit Figuren und Avataren, in der man Geborgenheit findet. Aber auch die Herstellung von sozialen Sphären und Bündnissen mit anderen Spielern und Figuren in Gilden ist wichtig.

Das alles erzeugt das Gefühl von Interaktion und Selbstwirksamkeit – also ein Gefühl von Macht und Kontrolle über die Spielwelt, in der es ein Ranking von Leistungen und Fähigkeiten gibt.

Welche Rolle spielt, dass es sich bei "Fortnite" um einen Shooter - also ein Schießspiel - handelt?

"Fortnite" funktioniert recht schnell und effektiv bezüglich der Selbstwirksamkeit. Man kommt schnell zum Ziel, es gibt viel Action, weniger Planung und Strategie. Zudem haben Schießspiele immer den Vorteil, dass sie gerade bei Jungs einen kindlich-regressiven Reiz liefern: Die kindliche Faszination von der Macht des Schießens in Kombination mit einer einfachen und bunten Fantasiewelt, in der es schnelle Erfolge gibt, ist sehr attraktiv.

Man erinnere sich an vergleichsweise banale Spiele wie "Moorhuhn", das Kultstatus erreichte. Es war quasi der gemeinsame kleinste Nenner von Schießspaß. Es scheint ein archaisch-lustvoller und regressiv-kindlicher Moment darin zu liegen, in dem sich Spiellust, Sportsgeist und Aggression verbinden.

"Fortnite" fasziniert natürlich ganz anders, es zieht in die Fantasiewelt hinein, hat aber auch eine gewisse Einfachheit, die geradezu entspannend wirkt und den Kopf ausschaltet. Schießen wird hier zu einem Flow-Zustand, der nicht so schnell unterbrochen wird.

Und wie sieht es mit der grafischen Darstellung aus?

Zunächst wirkt das Spiel wie ein Fantasy-Ego-Shooter, das heißt es wird aus der Perspektive des Schützen über den Lauf der Waffe hinweg auf "Gegenspieler" einer Fantasy-Welt geschossen. Es fällt aber auf, dass die Grafik eher comicähnlich gemacht ist: Hier wird eine Erinnerung an jugendliche Bildwelten geweckt, was vielleicht zum Geborgenheitsgefühl beitragen mag.

Insofern ist das Spiel ein Hybrid aus verschiedenen Genres, Fantasy, Ballerspiel, Comic-Optik, Avatar-Anlehnung und Kriegsspiel zugleich. Der Bindungsaspekt darf nicht unterschätzt werden: Für viele Dauerspieler sind diese Spiele wie ein Zuhause, in dem sie sich geborgen fühlen. "Fortnite" bietet diesen Aspekt offensichtlich.

Welche Faktoren spielen noch eine Rolle?

Die Runden sind schnell zu Ende, der Erfolg ist schnell sichtbar und die Spielwelt nicht sehr komplex. Es braucht keine große Anstrengung und nicht viel Grips. Der Erfolg ist im Vergleich zu strategischen Spielen leicht zu kriegen.

Schließlich war es eine gute Marketingstrategie, dass ein "Fortnite-Dance" über die sozialen Medien geteilt wurde, der ihm eine Art "Pop-Kultur-Status" gab und das Spiel bekannt machte.

Der Wiedererkennungswert war auch im Alltag der Kids unwahrscheinlich hoch. Es ist wichtig für solche Games, bei vielen bekannt zu sein, damit die Erfahrung des Spielens mit möglichst vielen geteilt werden kann. All dies zusammen genommen mag als "Suchtpotenzial" spezifisch sein, hinzu kommen die allgemeinen Faktoren, die allen Spielen mehr oder weniger anhaften.

Wie merkt ein Spieler, dass er süchtig ist?

Eine Studie aus dem Jahr 2001 hat gezeigt, dass die Kriterien bei Drogenabhängigkeit und Internet-PC-Abhängigkeit gleich sind. Es gelten dieselben sechs Faktoren:

  • Craving: Es stellt sich ein starkes Verlangen nach Spielen, das kaum zu unterdrücken ist, also ein Suchtdruck.
  • Kontrollverlust: Der Versuch, die Spielzeit zu begrenzen, scheitert regelmäßig, am Ende werden viele Stunden "gezockt", ohne dass sich an Absprachen gehalten wird.
  • Entzugssymptome: Begrenzungsversuche durch andere Personen eskalieren, es kommt zu Aggression, Gewalt und emotionalen Ausbrüchen.
  • Toleranzentwicklung: Betroffene spielen immer länger, immer mehr, ohne ein Gefühl der Ermüdung zu bekommen.
  • Konsum, trotz des Wissens um Schaden: Später geben die Betroffenen an, dass sie immer wussten, dass etwas nicht stimmt und dass das Spielen ihnen nicht guttat, aber sie konnten es nicht eingestehen.
  • Verlust des sozialen Funktionsniveaus: Das Leben dreht sich irgendwann nur noch um das Spielen und um die virtuelle Welt, nicht mehr um Schule, Ausbildung, reale Freunde oder reale Familie.

Wie merkt es das Umfeld und wie kann es der Person helfen?

Wenn man sich die Kriterien anschaut, wird deutlich, woran ein süchtiges Spielverhalten zu erkennen ist. Die Betroffenen gehen aus dem Kontakt und brechen reale Beziehungen ab. Sie ziehen sich zurück, verbringen immer mehr Zeit hinter dem PC, werden aggressiv und impulsiv, sobald das Spiel unterbrochen wird. Sie sind nicht mehr in der Lage, ihr soziales Funktionsniveau zu halten, also Schule, Hobby, soziale Kontakte, Freundschaft.

Eine Verwahrlosung findet statt und eine stille Regression mit Vermeidung von realen Konflikten, die eigentlich hinter der Sucht stecken. Spricht man Ängste an, werden Größenphantasien vorgeschoben, große Pläne, die vorbereitet werden oder die Abhängigkeit wird ganz verleugnet.

Was können Angehörige dann tun?

Wichtig ist, dass man diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht sich selbst überlässt, sondern Hilfe holt. Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein Dorf, heißt es. Um dieses Dorf wieder herzustellen und die virtuelle Isolation zu durchbrechen, braucht es reale soziale Kontakte, die als System aufgestellt werden müssen.

Eine Begrenzung muss organisiert werden, womit die Familien selbst häufig überfordert sind. Es gibt Beratungsstellen wie "return" in Hannover oder Suchttherapiezentren wie "Teen Spirit Island" im Kinderkrankenhaus "Auf der Bult" in Hannover. Sie bieten Suchtsprechstunden an. Dort kann man klären, wie individuell geholfen werden kann. Es ist nicht selten, dass am Ende eine stationäre Therapie empfohlen wird, da hinter der PC-Abhängigkeit weitere psychische Störungen wie zum Beispiel Angst, Depression, Trauma, Bindungsstörung oder ADHS sichtbar geworden sind.

Verwendete Quellen:

  • Frank M. Fischer, Christoph Möller: "Sucht, Trauma und Bindung bei Kindern und Jugendlichen"
  • Business Insider: "How big is ´Fortnite´? With nearly 250 million players, it's over two-thirds the size of the US population”
  • Kinder- und Jugendkrankenhaus "Auf der Bult"
  • "Teen Spirit Island", Therapie für Kinder und Jugendliche im Kinderkrankenhaus "Auf der Bult"
  • Studie von Matthias Jerusalem und André Hahn (2001): "Internetsucht: Jugendliche gefangen im Netz"
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