Tausend Nachrichten in fünf Minuten: Kinder landen ohne eigenes Zutun in WhatsApp-Gruppen, die gefährlich für sie sein können.

Ein Interview

Hunderte Nachrichten am Tag im Klassenchat: Das ist leider keine Seltenheit und ein Thema, das viele Eltern beschäftigt. Doch dieses Phänomen hat noch einmal eine ganz andere Dimension: Immer häufiger werden Kinder oder Jugendliche zu WhatsApp-Gruppen mit knapp 1.000 Mitgliedern hinzugefügt. Auch wenn sie schnell wieder austreten, ist es womöglich schon zu spät. Digitaltrainerin Sandra Weiss benennt im Gespräch mit unserer Redaktion die große Gefahr der Riesen-Chats.

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Frau Weiss, "Füge jeden zu dieser Gruppe hinzu, den du kennst" – so oder so ähnlich heißen WhatsApp-Gruppen, zu denen vor allem Kinder und Jugendliche ungefragt hinzugefügt werden. Tatsächlich lauern in diesen Chats Gefahren, da die Nutzerinnen und Nutzer binnen Sekunden mit unzähligen Nachrichten oder unseriösen Stickern zugespammt werden. Was steckt hinter solchen Gruppen?

Sandra Weiss: Das ist gar nicht so einfach zu beantworten: Manchmal werden sie einfach nur von sogenannten "Trollen" ins Leben gerufen – also Menschen jeden Alters, denen nur daran liegt, im Internet möglichst viel Unruhe und Chaos zu verbreiten. Möglicherweise könnten aber auch Rechtsextreme, Pädokriminelle oder andere kriminelle Gruppierungen hinter diesen Gruppen stecken. Das Phänomen der Riesen-WhatsApp-Gruppen ist noch so neu, dass auch Kriminalbeamte, mit denen wir gesprochen haben, teilweise noch im Dunkeln tappen.

Wissen: Was bedeutet Pädokriminalität?

  • Arten sexueller Gewalt gegen Kinder werden unter dem Begriff Pädokriminalität zusammengefasst. Vielen bekannt ist der Begriff "Pädophilie", das ist eine Störung der Sexualpräferenz, die sich in einer Fixierung auf Kinder ausdrückt. Allerdings ist dieser Begriff heftig umstritten, weil -philie (griech.) "Liebe" bedeutet. Als angemessener gilt der Begriff "Pädosexualität", weil er das sexuelle Begehren in den Vordergrund rückt. Von "Pädokriminalität" spricht man, wenn die pädosexuellen Wünsche umgesetzt werden. Jede sexuelle Handlung von Erwachsenen und Jugendlichen an oder mit Kindern ist strafbar. (Quelle: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs)

Die Gruppen werben damit, ein vermeintlich gemeinschaftliches Ziel von 1.000 Mitgliedern zu erreichen.

Richtig. Die maximale Anzahl an Mitgliedern in WhatsApp-Gruppen beträgt aktuell 1.024 Mitglieder, da möchte man möglichst nah herankommen. In vielen Fällen gelingt das auch, zumindest fast: Mir ist aufgefallen, dass die Gruppen in den meisten Fällen um die 950 Mitglieder zählen, weil immer einige Kinder wieder die Gruppe schnell verlassen.

Kein Wunder: Sie wurden in kürzester Zeit von einer schieren Flut an Nachrichten überschwemmt – wir sprechen hier von mehr als 1.000 Nachrichten in den ersten fünf Minuten!

"Schafft es ein Pädokrimineller in eine solche Gruppe, erhält er auf diesem Weg die persönliche Telefonnummer von Hunderten oder gar Tausenden Kindern und Jugendlichen."

Digitaltrainerin Sandra Weiss über die Gefahren von WhatsApp-Gruppen

Ist mit dem Austritt aus der Gruppe die Gefahr nicht gebannt?

Nein, ist es leider nicht. Alle Gruppenmitglieder können bei WhatsApp die Telefonnummer aller anderen Gruppenmitglieder einsehen, selbst wenn diese nur kurz in der Gruppe waren. Schafft es beispielsweise ein Pädokrimineller in eine solche Gruppe, erhält er auf diesem Weg die persönliche Telefonnummer von Hunderten oder gar Tausenden Kindern und Jugendlichen.

Hierzu kann ich von einem Erlebnis während eines meiner Workshops erzählen: Ein Schüler zeigte mir eine Nachricht aus der WhatsApp-Gruppe, in der die Kinder nach ihrem Alter und der Schule, die sie besuchen, gefragt werden. Dass die Nachricht morgens gegen 10.30 Uhr eingegangen ist, lässt darauf schließen, dass sie nicht von einem Kind verschickt wurde, das gerade im Unterricht sitzt.

Wir sprechen hier also von dem Verdacht des Cybergroomings: Die große Gefahr, dass in diesen WhatsApp-Gruppen pädokriminelle Menschen stecken, die versuchen, das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen zu gewinnen, um am Ende sexuelle Handlungen vorzubereiten.

Wissen: Was ist Cybergrooming?

  • Der Begriff beschreibt die gezielte Anbahnung sexueller Kontakte mit Minderjährigen über das Internet. Die Täter geben sich in Chats oder Online-Communitys als ungefähr gleichaltrig aus oder stellen sich als verständnisvolle Erwachsene mit ähnlichen Erfahrungen und Interessen dar. So gewinnen sie das Vertrauen ihrer Opfer, um sie zu manipulieren. Ein Straftatbestand, der mit Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren geahndet wird. (Quelle: Bundeskriminalamt)

Was ist mit anderen "verbotenen" Inhalten?

Ich habe verschiedene Chatverläufe von Schülerinnen und Schülern, die den Gruppen hinzugefügt wurden, gesichtet. Rechtsextremes Material habe ich während des Durchscrollens nicht gefunden, aber sexualisierte Inhalte, wie pornographische Memes, GIFs und Videos.

Wie hoch ist die Hemmschwelle der Kinder, die Gruppe wieder zu verlassen? Immerhin werden sie in der Regel von Kontakten aus ihrem Adressbuch zu den Gruppen hinzugefügt, sodass zunächst ein gewisses Vertrauen in die Gruppe besteht, oder?

So ist es. Dennoch ist mein Eindruck, dass sich viele Kinder auf ihr Bauchgefühl verlassen und die Gruppen schnell wieder verlassen. Dabei haben sie nicht unbedingt Bedenken bezüglich pädokrimineller Inhalte, sondern fühlen sich in erster Linie von der anonymen Nachrichtenflut belästigt.

Tipp: Diese WhatsApp-Einstellung kann helfen

  • In den "Einstellungen" lässt sich das Risiko reduzieren, ungefragt zu Gruppen hinzugefügt zu werden. Unter "Datenschutz" - "Gruppen" findet sich die Karte "Wer kann mich Gruppen hinzufügen?". Markieren Sie hier unter "Meinte Kontakte außer ..." alle Kontakte, kann der Einlader Ihnen lediglich eine Gruppeneinladung schicken, statt Sie einfach hinzuzufügen. Erst wenn Sie diese Einladung angenommen haben, sind Sie Teil einer Gruppe.

Bekommen die Lehrkräfte an den Schulen etwas von diesen Gruppen mit?

In der Regel eher nicht. Die Eltern, Lehrkräfte und die Schulleitungen der betroffenen Schulen hier in München waren sehr dankbar, dass die Verbreitung der Gruppen aufgedeckt wurde und entsprechend in unseren Workshops aufgearbeitet werden konnte. Weil wir die Kinder auf gar keinen Fall bestrafen, bringen sie uns Digitaltrainerinnen und -trainern oft großes Vertrauen entgegen.

In unseren Workshops erklären wir den Kindern anhand von konkreten Beispielen, wie es zu solchen Anbahnungen kommen kann, denn hier steht an oberster Stelle, dass die Kinder Bescheid wissen und sich nicht manipulieren lassen!

Denn leider ist Cybergrooming ein generelles Problem: Auf sämtlichen Social-Media-Plattformen, in Online-Spielen – auf Smartphones, PCs und Konsolen – sowie auf frei zugänglichen Webseiten. Überall da, wo es einen Online-Chat gibt, besteht potenziell Gefahr eines pädokriminellen Übergriffs.

Welche Webseiten meinen Sie konkret damit?

Es gibt beispielsweise die Plattform gutefrage.net. Hierbei handelt es sich um eine "eigentlich" völlig harmlose Plattform, auf der man Fragen stellen kann – und dennoch sprechen wir von einem Tummelplatz für Pädokriminelle, der auch für übergriffige Interaktionen missbraucht wird. Dies ist auch bereits der Kriminalpolizei bekannt.

"Sätze wie 'Es gibt da draußen böse Menschen' sind zu schwammig."

Digitaltrainerin Sandra Weiss

Wie können Eltern ihre Kinder hier sensibilisieren? Können Kinder überhaupt vollends in der digitalen Welt geschützt werden?

Der beste Schutz der Kinder und Jugendlichen im Internet sind immer noch die Eltern, da es keinen sicher funktionierenden Jugendschutz im Netz gibt. Deshalb muss man hier aufklären und Gefahren wie Cybergrooming konkret ansprechen! Sätze wie "Es gibt da draußen böse Menschen" sind zu schwammig.

Vielmehr muss Klartext gesprochen werden, dass es Erwachsene gibt, die sich zu Kindern hingezogen fühlen und sie gerne nackt sehen oder sogar berühren wollen. Und den Kindern muss klar sein, dass diese Menschen sehr raffiniert vorgehen, um ihr wahres Alter und ihre wahren Absichten zu verbergen.

Studie: Jedes dritte Mädchen, jeder vierte Junge online sexuell belästigt

Wann sollten Eltern zur Polizei gehen?

Sobald in Gruppen Inhalte mit kinder- oder jugendpornografischem oder volksverhetzendem Inhalt geteilt werden, sprechen wir von strafbaren Inhalten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass bei Cybergrooming allein die entsprechende erkennbare Absicht, mit einem Kind in Kontakt zu treten oder ein Foto zu ergattern, genügt, um sich strafbar zu machen.

Dieses Wissen soll Eltern ermutigen, zur Polizei zu gehen, um dadurch möglicherweise auch weitere Kinder zu schützen. Denn ein pädokrimineller Täter wird immer wieder versuchen, Kontakt zu Kindern aufzunehmen – auch zu vielen Kindern gleichzeitig.

Sprechen wir also von einem Fass ohne Boden?

Da Cybergrooming tatsächlich in Online-Chats, sozialen Medien, Online-Spielen und vermeintlich harmlosen Frage-Foren vorkommt, ist es schwierig, dem Thema beizukommen. Die JIM-Studie 2023 zeigt auf, dass jedes dritte Mädchen und jeder vierte Junge online schon einmal sexuell belästigt wurde, davon etwa sechs bis acht Prozent mehrmals in der Woche. Jugendliche sind noch häufiger betroffen.

Wie kommt es zu diesen erschreckenden Zahlen?

Kinder nutzen das Internet am häufigsten, weil sie ganz einfach Spaß haben wollen. Gefahren, die etwa von fragwürdigen WhatsApp-Gruppen ausgehen, können sie noch nicht einordnen, vielmehr sehen Sie sich als Teil der Challenge, 1.000 Gruppenmitglieder zu erreichen. Hinzu kommt, dass Kinder oft keine Scheu haben, mit Fremden zu chatten.

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Zurück zu den WhatsApp-Gruppen: Wie sollte ein Kind reagieren, wenn es einer solchen Gruppe hinzugefügt wird?

Eigentlich müssten wir unsere Kinder vorab schulen, damit sie andere erst gar nicht zu solchen Gruppen hinzufügen. Aber wenn es nun mal schon passiert ist, empfehle ich, die Gruppe rasch wieder zu verlassen.

Da die Nummer aber nun bekannt ist, sollte man seinem Kind zu verstehen geben, dass es bei seltsamen Kontaktanfragen immer bei den Eltern um Hilfe bitten kann. Wurden Fotos mit mutmaßlich rechtswidrigen Inhalten in der Gruppe verschickt, kann man sich auch eine Anzeige bei der Polizei überlegen – am besten, man fragt auf der Dienststelle nach den zuständigen Jugendbeamten.

Über die Gesprächspartnerin

  • Dr. med. Sandra Weiss ist Digitaltrainerin und Neurologin und vermittelt in ihren Workshops und Vorträgen digitale Medienkompetenz und Mediensicherheit für Kinder. Im Rahmen von Digitaltagen an Schulen, Bildungsstätten und Unternehmen werden Kinder, Eltern und Lehrkräfte auf eine gemeinsame und verantwortungsvolle Mediennutzung vorbereitet.

Verwendete Quellen

In Freundschaften der Kinder einmischen? Es gibt eine wichtige Regel

"Ich finde deinen Freund total unsympathisch!" Sollten wir so etwas zu unserem Kind sagen? Wie wir erkennen, wann unsere Meinung gefragt ist, erklärt Therapeutin Anette Frankenberger in unserem Podcast "15 Minuten fürs Glück". (Foto: iStockphoto/laflor)
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