Der Schlager wird 150 Jahre alt. Behauptet zumindest Florian Silbereisen. Aus diesem Anlass macht der Moderator ein kleines Fass auf und feiert das Jubiläum mit allem, was er so unter Schlager versteht. Doch was fasziniert die Menschen so an Schlager-Musik? Eine satirische Spurensuche.

Eine Glosse

Meine Arbeit als Medien- und Gesellschaftsjournalist führt mich nicht selten in menschliche Grenzbereiche. Einige der eindringlichsten Erfahrungen machte ich dabei in der Welt des Schlagers. Bisher konnte ich mir den Sinn von dieser Musik einfach nicht erklären. Nun wollte ich es genau wissen und was, wenn nicht die gestrige Samstagabendshow im Ersten, "150 Jahre Schlager", sollte mir Antwort auf meine Frage geben, was die Menschen so an dieser Musik fasziniert. Die Show im Minutenprotokoll.

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20.05 Uhr: Ich frage mich, wie der Silbereisen auf genau 150 Jahre Schlager kommt. Woran macht er das fest? Was ist Schlager überhaupt?

20.15 Uhr: Florian Silbereisen eröffnet die Show in Erfurt und schon springen mit lautem Getöse die Jungs von Feuerherz auf die Bühne. Die sind offenbar so etwas wie eine Schlager-Boygroup, also zwei Probleme in einem. Unterstützt werden die Schlager-Newcomer von Silbereisen, DJ Ötzi und den Höhnern. Zusammen singen sie ein Medley von Smokie über Wolfgang Petry bis hin zu den Toten Hosen. Was für ein Auftakt, mein Trommelfell hat Gänsehaut.

20.24 Uhr: Silbereisen erklärt das mit den 150 Jahren. Damals soll es die erste nachgewiesene Erwähnung des Wortes Schlagers gegeben haben. Ich finde die Erklärung ziemlich willkürlich. Mit der gleichen Begründung könnte man auch 1.200 Jahre Mundgeruch oder 750 Jahre Herbstlaub feiern. Aber "Ungefähr 150 Jahre Schlager" klingt natürlich nicht so gut als Show-Titel.
20.30 Uhr: Auf der Bühne steht die laut Silbereisen "erfolgreichste Newcomerin des deutschsprachigen Schlagers", Vanessa Mai. Frau Mai singt "Du hast mich aus meinem Schlaf befreit, aus dem Dunkel einer langen Ewigkeit." Ich wünsche Frau Mai von Herzen, dass ihre Ewigkeit nicht so lange war wie vergleichbare Ewigkeiten, sondern vielleicht ein wenig kürzer. Eine kurze Ewigkeit also. Maximal eine mittellange. Ich hoffe, dass Vanessa Mais lange Ewigkeit von allen langen Ewigkeiten noch eine der kürzeren war.

20.44 Uhr: Zeit für eine Show-Einlage. Reiner Calmund kommt auf die Bühne und darf sich als neuer Schlagzeuger der Höhner bewerben. Calmund drischt planlos auf ein Schlagzeug ein, während die Höhner "Viva Colonia" singen. Das Publikum rastet aus. Mich fröstelt.

21.05 Uhr: Florian Silbereisen kündigt Mireille Mathieu an: "2004 hatte ich lange Haare und durfte mit ihr singen, heute habe ich kurze Haare und darf wieder mit ihr singen." Das ist die ganze große Moderations-Schule, Chapeau!. Während ich mich zuhause vor Silbereisen verneige, watet der mit der 69-jährigen Mathieu durch Nebelmaschinen-Nebel. Die beiden schauen sich in die Augen und singen verträumt: "Ein Augenblick der Zärtlichkeit, wir zwei vergaßen Ort und Zeit". Schön, die zwei.

21.16 Uhr: Der Belgier Christoff sitzt bei Florian Silbereisen und gibt mir einen ersten Hinweis bei meiner Schlagersuche: "Schlager macht Menschen glücklich, es ist Musik für alle", erklärt der Christoff. Das Publikum klatscht. Ich notiere mir "glücklich" und "alle".

21.47 Uhr: Mir geht das Bild vom trommelnden Calmund nicht mehr aus dem Kopf.

22.20 Uhr: Anni Perka steht auf der Bühne und sieht traurig aus. Den Grund erfahre ich gleich, denn sie singt "Nun adieu, auf Wiedersehen, weil es so schön war, ist das Ende nun so schwer." Anni Perka ist fertig und weint. Ich kann sie verstehen. Ich notiere mir "unglücklich" und "allein".
22.29 Uhr: Howard Carpendale plaudert mit Silbereisen über die Frage, was Schlager sei. Er selbst bräuchte eine Stunde, um es zu erklären, gibt mir und den Zuschauern aber einen Tipp: "Vergiss Schlager oder Popmusik. Es gibt gute Musik und es gibt schlechte Musik." Äh, genau, Herr Carpendale. Und es gibt gute Antworten und es gibt schlechte Antworten.
22.37 Uhr: Ich habe immer noch keine großen Erkenntnisse über Schlagermusik gesammelt. Vielleicht bringt Silbereisen jetzt Licht ins Dunkel. Er erklärt, dass jeder Musiktitel zum Schlager werden kann, wenn er erfolgreich ist. Interessant. Ich freue mich schon, wenn Eminem demnächst eine Einladung von Carmen Nebel aus seinem Briefkasten angelt.


22.51 Uhr: Brings sind auf der Bühne und behaupten, in jedem Menschen stecke "ein kölsche Jeck". Ich ziehe das in Zweifel.

23.26 Uhr: Vicky Leandros fährt mit Theo nach Lodz. Ich weiß natürlich nicht, welche Route die beiden gewählt haben und ob sie sich unterwegs vielleicht verzettelt haben, aber nachdem die zwei bereits 1974 aufgebrochen sind, erscheint mir die Fahrt doch unnatürlich lang.

23.28 Uhr: Semino Rossi präsentiert seine spärlichen Botanikkenntnisse und singt "Rot sind die Rosen". Ich weiß; und blau blüht der Enzian und schwarz-braun ist die Haselnuss.
23.30 Uhr: Florian Silbereisen erklärt die Show für beendet. Der Schlager ist nun 150 Jahre und dreieinhalb Stunden alt. Mein Fazit fällt uneindeutig aus: Eigentlich ist ein Schlager-Fan leicht zu identifizieren. Zum einen mag er große Gefühle, simple Melodien und noch simplere Texte und zum anderen ruft er gerne Vokale durch die Gegend und klatscht dabei in die Hände. Doch das hilft mir nicht weiter, denn das Erste kenne ich auch von anderen Musikrichtungen und das Zweite von kleinen Kindern. Die Faszination muss also woanders liegen. Vielleicht dort: Oft wird gesagt, man höre Schlager, um die Sorgen des Alltags zu vergessen. Das klingt logisch. Aber was hört man dann, um Schlager zu vergessen?

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