Der Fall von Tugçe A. löst deutschlandweit große Bestürzung aus. Nachdem die Studentin in einem Fast-Food-Restaurant in Offenbach versucht hatte, einen Streit zu schlichten, wurde sie niedergeschlagen. Ärzte versuchten durch eine Not-OP ihr Leben zu retten. Doch nun haben sie den Hirntod der 22-Jährigen festgestellt. Der mutmaßliche Täter ist gerade mal 18 Jahre alt.

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Ist unsere Jugend so verroht? Ist die Bereitschaft zu Gewalt so groß? Müssen schärfere Gesetze gegen Jugendkriminalität her? Im Interview mit diesem Portal hierzu Kriminologe Gerhard Spiess:

Herr Spiess, der Fall von Tugçe A. sorgt für große Betroffenheit. Die Menschen fragen sich, wie es zu so etwas kommen kann?

Gerhard Spiess: Es handelt sich hier wohl um einen Fall von spontaner Gewaltkriminalität, die üblicherweise aus der Situation heraus entsteht. Häufig spielt eine Rolle, dass man sich profilieren möchte. Bei Jugendlichen passiert sowas häufig spontan, unüberlegt und kopflos oder auch unter dem Einfluss von Alkohol.

Aber wie kann man so kopflos sein?

Sowas passiert nicht nur Jugendlichen, sondern auch Erwachsenen. Die schweren Gewaltdelikte werden in der Regel nicht von Jugendlichen begangen. Da sind Erwachsene in viel größerem Umfang beteiligt. Von den Straftaten gegen das Leben, die die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet, gehen auf Jugendliche vier Prozent zurück und auf junge Erwachsene, also 18 bis 21-Jährige, sieben Prozent.

Die Frage nach dem Warum bleibt. Unüberlegt, spontan, kopflos - fehlt jugendlichen Straftätern die Reife, um mögliche Konsequenzen vorauszusehen?

Jugendliche handeln naturgemäß häufiger unüberlegt. Trotzdem, wenn Sie etwa an Straftatbestände wie Misshandlung durch Erwachsene denken, kommen hierbei wesentlich mehr Menschen ums Leben. Man kann es auf die Unreife zurückführen. Man muss aber auch beachten, dass solche schwerwiegenden Fälle mit solch gravierenden Folgen bei Jugendlichen selten sind. Sie werden jedoch mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Aber nur durch einzelne Fälle lässt sich nicht beschreiben, wie die Entwicklung tatsächlich aussieht.

Und zwar?

In jedem Fall nicht so, wie es zum Beispiel im Wahlkampf von Politikern verkündet wird, dass alles schlimmer wird. Tatsächlich ist es so, dass in den vergangenen fünf, sechs Jahren die von der Polizei registrierten Gewaltdelikte deutlich rückläufig sind, vor allem die, die jungen Menschen zur Last gelegt werden. Es ist keineswegs so, dass wir es mit einer zunehmenden Verrohung junger Menschen zu tun haben …

… sondern?

Es ist eher so, dass die Sensibilität gegenüber Gewalt etwa auch auf dem Schulhof zugenommen hat. Es wird auch häufiger angezeigt.

Und das Beispiel von Tugçe A. polarisiert.

Themen, die die Menschen sehr bewegen, werden von Politikern gerne aufgegriffen. Deren Äußerungen zeugen aber nicht immer von großer Sachkunde. Wenn man in die Statistik schaut, bekommt man ein anderes Bild. Dass insbesondere von gewalttätigen Jugendlichen eine größere Gefahr ausginge als früher, ist nicht der Fall.

Doch gegen Taten wie nun geschehen gibt es keine Vorbeugung?

Die Polizei kommt regelmäßig zu spät, dann, wenn es schon passiert ist. Aber in Zusammenarbeit von der Polizei mit Kommunen gibt es viele Präventionsprojekte, die sich an Jugendliche richten. Ein Gedanke ist, dass sich Jugendliche außerhalb von Lokalen bewegen sollten, in denen konsumiert wird und das Ganze ins Geld geht. In der Schule wird etwa bei Mobbing versucht, dass Schüler selbst untereinander schlichten oder vermitteln.

Und was macht die Politik? Als Jonny K. im Oktober 2012 in Berlin getötet wurde, wurden vereinzelt Forderungen nach schärferen Gesetzen laut.

Von dem Gedanken, dass schärfere Gesetze dieses Problem lösen könnten, wird jeder mit Sachverstand nichts halten. Mich wundert etwas anderes. Wenn sie an den Alexanderplatz in Berlin denken oder bestimmte Lokalitäten in anderen Großstädten, dann kommt es gerade dort immer wieder zu Zusammenstößen unter Alkoholeinfluss. Und das, weil offensichtlich an bereits betrunkene Personen weiter Alkohol ausgeschenkt wird. Da wäre es durchaus möglich, die Betreiber in die Pflicht zu nehmen oder so ein Lokal auch mal vorübergehend zu schließen.

Der Alkohol alleine ist das Problem?

Wir kennen die Risikofaktoren. Eigene Gewalterfahrung im Elternhaus oder Freundeskreis ist der erste Risikofaktor. Ein weiterer Faktor ist, wenn Jugendliche in der Schule oder im Berufsleben nicht Fuß fassen. Die sind mehr gefährdet, selbst gewaltig zu werden. Das kann man aber besser durch die Sozialpolitik beeinflussen als etwa durch schärfere Gesetze.

Wenn Sie von Sozialpolitik sprechen: Lassen sich jugendliche Straftäter besonders ihrer sozialen Herkunft zuordnen?

Sie haben die Frage nach den Ausländern gar nicht gestellt. Was wir über die sozialen Hintergründe wissen, ist, dass es keine Rolle spielt, ob jemand einen deutschen Pass hat oder nicht. Es kommt auf das Erziehungsverhalten im Elternhaus an und darauf, in welchen Gruppen sich die Jugendlichen bewegen. Wird in diesen zum Beispiel Gewalt als männlich angesehen? Wie sieht es mit schulischem Erfolg aus? Emigranten oder Aussiedler sind jedenfalls nicht mehr belastet als deutsche Jugendliche. Andere Fragen entscheiden. Zum Beispiel, inwieweit junge Menschen in ihrer Umgebung Anerkennung und Respekt finden.

Gerhard Spiess ist Diplom-Soziologe und Kriminologe. Er unterrichtet an der Universität Konstanz und gilt als Fachmann auf dem Gebiet der Jugendkriminalität. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Werke zum Thema.
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