Hohe Inflation, gestiegene Preis und enorme Zinsen teilen die Türkei immer mehr in Arm und Reich. Viele Menschen können kaum noch ihren Alltag bestreiten.

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Wenn Marktverkäufer Sabri Yavuz sich am Morgen auf den Weg macht, um Weißkohl und Zitronen zu verkaufen, weiß er bereits, dass er am Abend mit zu wenig Geld nach Hause gehen wird. "Wir kommen nicht über die Runden", sagt der 45-Jährige.

Auf dem Tisch vor ihm stapeln sich dicke Kohlköpfe, die er auf einem Istanbuler Markt anbietet. Die Leute kauften nichts, viele beschwerten sich über die Preise, sagt der Familienvater, der oft nicht weiß, wie es weitergehen soll. Die Inflationsrate in der Türkei lag zuletzt bei satten 64,77 Prozent im Jahresvergleich und dürfte in den kommenden Monaten noch steigen. Vor allem Menschen der mittleren und unteren Schichten treibt das in Existenzkrisen.

Sabri Yavuz verkauft auf einem Istanbuler Markt Kohl und Zitronen. "Wir kommen nicht über die Runden", sagt der Familienvater. © picture alliance/dpa/Anne Pollmann

Produkte des Alltags in der Türkei kaum noch bezahlbar

Als Grund für die hohe Inflation gilt die Wirtschaftspolitik, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Vergangenheit forciert hat. Niedrige Zinsen, um jeden Preis. Die Inflation schoss in die Höhe und lag im Oktober 2021 bei mehr als 85 Prozent. Erst nach den Wahlen im Mai 2023 und einem Wechsel an den Spitzen von Zentralbank und Wirtschaftsministerium leitete Erdogan einen Kurswechsel ein. Der Leitzins wurde deutlich angehoben und liegt derzeit bei 42,5 Prozent. Doch der Kampf gegen die Inflation braucht einen langen Atem.

Dass es für viele Leute finanziell deutlich enger geworden ist, zeigt sich auch in Supermärkten, wo etwa Butter, Zahnpasta, Olivenöle oder Babynahrung teilweise nur noch alarmgesichert ins Regal gestellt werden. Im vergangenen Jahr entwarf der Kommunikationsdesigner Mahir Akkoyun einen Sticker, mit dem er seinem Unmut über die Preissteigerungen Ausdruck verlieh. "Ist dieses Produkt zu teuer? Dank Erdogan" stand darauf, daneben ein Foto des türkischen Präsidenten. Der Urheber wurde kurzerhand festgenommen und angeklagt, wenn auch im Prozess freigesprochen.

Besonders Wohnraum ist für viele Menschen unerschwinglich geworden. Im November 2023 lagen die Preise landesweit im Schnitt 86,5 Prozent über denen des Vorjahres. So stark wie in der Türkei stiegen die Mieten im vierten Quartal 2023 in keinem anderen OECD-Land, wie aus einer Statistik der Organisation hervorgeht. Weil Mieterhöhungen rechtlich auf 25 Prozent begrenzt sind, versuchen viele Vermieter mit allen Mitteln, ihre Mieter rauszuwerfen. Zivilgerichte ächzen Berichten zufolge unter einer Flut von Mieträumungsklagen.

Über die Immobilienkrise klagte kürzlich auch die Zentralbankchefin Hafize Gaye Erkan in einem Interview, das hohe Wellen schlug. Sie habe keinen bezahlbaren Wohnraum in Istanbul gefunden und sei darum wieder bei ihrer Mutter eingezogen. Die Notenbankchefin verdient laut Berichten monatlich etwa 5.000 Euro und stieß auch deshalb mit ihren Aussagen auf viel Unverständnis etwa bei Geringverdienern.

Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer

Erol Günes verkauft sechs Tage die Woche Handtaschen auf Märkten. "Wir gehören zur untersten Schicht in der Türkei. Uns geht es schlecht, den Reichen geht es gut. Aber das traut sich keiner zu sagen. Wer es sagt, sitzt zwei Minuten später im Knast", sagt der 50-jährige Kurde und Vater zweier Kinder. Mit zehn Kreditkarten im Portemonnaie versuche er, über die Runden zu kommen. Bisher habe er 200.000 Lira Schulden (gut 6.000 Euro). Das machten alle so.

Ende Dezember trieben Schulden einen 42-Jährigen viermaligen Vater dazu, sich aus der dritten Etage eines Istanbuler Einkaufszentrums in das Foyer zu stürzen. An die Brüstung geklammert rief er: "Ich habe Hunger, meine Kinder haben Hunger, ich habe Schulden". Der Mann überlebte schwer verletzt.

"Die Inflation vernichtet die Mittelschicht und führt zu Extremen. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer", sagt Ökonom Seref Oguz. In Straßenumfragen berichten Menschen davon, dass sie hungrig ins Bett gehen, mit über 70 wieder zu arbeiten beginnen müssen, weil ihre Rente nicht zum Überleben reicht. Der Mindestlohn, den laut Regierung 37 Prozent der Menschen beziehen, wurde kürzlich erst auf 17.002 Lira (518 Euro) angehoben. Gewerkschaften kritisierten das als deutlich zu wenig. Laut der Arbeitnehmervertretung Türk-Is lag die Armutsgrenze im Dezember bei 47.000 Lira (rund 1.433 Euro).

An die Prognose der Regierung, dass die Inflation bis zum Jahresende auf 34 Prozent sinken wird, glaubt Ökonom Oguz nicht. Dass die Regierung den langen Atem haben werde, den es zur Bekämpfung der Inflation brauche, bezweifelt er. "Um sie langfristig runterzubekommen, muss die orthodoxe Wirtschaftspolitik streng fortgesetzt werden. Gleichzeitig muss auch die Regierung auf ihre populistische Rhetorik verzichten und es muss ein starker Sparkurs bei den öffentlichen Ausgaben gefahren werden."

Im vergangenen Jahr hatte die Regierung wiederholt milliardenschwere Wahlgeschenke gemacht. Beobachter gehen davon aus, dass sie auch vor den am 31. März anstehenden, landesweiten Lokalwahlen tief in die Tasche greifen wird, um etwa Istanbul, die bevölkerungsreichste Gemeinde des Landes, zu gewinnen. (dpa/the)

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