• ​​​​​​Die Netflix-Serie "Squid Game" eroberte Deutschland im Sturm - und führte zu einem Sturm der Entrüstung.
  • Als Schülerinnen und Schüler Bestrafungen im Stile der Serie nachspielten, war der Aufschrei groß: Wie konnte so etwas eine Jugendfreigabe erhalten?
  • Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) musste klarstellen: die Serie erhielt keine FSK-Freigabe, da die Selbstkontrolle gar nicht zuständig war.
  • Wir haben uns mit Stefan Linz, Geschäftsführer der FSK, über die Aufgaben der Selbstkontrolle unterhalten.
Ein Interview

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Herr Linz, die Abkürzung FSK steht für Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft. Was genau ist ihre Aufgabe?

Stefan Linz: Die FSK ist zuständig für die Jugendschutzbeurteilung und Altersfreigabe von filmischen Inhalten. Das ist unsere Kernaufgabe. Darüber hinaus sind wir auch noch beratend tätig für Anbieter im Online-Bereich für die jugendschutz- und gesetzeskonforme Verbreitung von jugendschutzrelevanten Inhalten im Online-Bereich.

Beraten Sie auch Anbieter von Streaming-Diensten?

Ja, wir beraten auch Anbieter von Video-on-Demand-Plattformen. Im Online-Bereich ist es aber so geregelt, dass Anbieter eine Jugendschutzbewertung auch selbst durchführen können – im Unterschied zu einem Anbieter, der seinen Inhalt beispielsweise in einem Kino oder auf einem Bildträger veröffentlicht. Online-Anbieter können jedoch freiwillig mit einer anerkannten Selbstkontrolle, wie beispielsweise der FSK, zusammenarbeiten. Dadurch haben sie auch eine rechtliche Privilegierung.

Sobald ich also etwas aus meiner Serie oder meinem Film im öffentlichen Raum zeigen möchte, muss ich dafür die Freigabe einer Selbstkontrolle vorweisen? Habe ich das richtig verstanden?

Das ist insofern richtig, dass wenn Sie im Kino oder auf Bildträgern Kinder und Jugendliche erreichen wollen, Sie eine gesetzliche Altersfreigabe brauchen. Das unterscheidet sich vom Online- und Rundfunkbereich, wo Anbieter, wie gerade schon ausgeführt, ihre Inhalte selbst bewerten können.

Die Vorlage bei der FSK ist dennoch freiwillig. Denn für Erwachsene können Sie Inhalte auch ohne gesetzliche Altersfreigabe zugänglich machen.

"Die FSK prüft pro Jahr etwa 1.600 Spielfilme"

Wie viele Serien und Filme prüfen Sie denn ungefähr im Jahr?

Die FSK prüft pro Jahr etwa 1.600 Spielfilme und über 5.000 Serienepisoden. Seit der Gründung hat die FSK über 250.000 Altersfreigaben für filmische Inhalte vergeben - von Spielfilmen über Kurzfilme und Trailer, bis hin zu Konzertaufnahmen. Bislang wurden so viele Stunden filmisches Material geprüft, dass eine einzelne Person über 26 Jahre bräuchte, um alle Inhalte ohne Unterbrechung zu sehen.

Welche Alterseinstufungen trifft die FSK überhaupt?

Es gibt fünf Freigabestufen, die gesetzlich vorgegeben sind, ab 0, ab 6, ab 12, ab 16 und ab 18 Jahren, über die die FSK im Rahmen ihrer Prüfverfahren entscheidet.

Diese Abstufungen lassen sich meiner Erfahrung nach immer sehr schwer greifen. Können Sie mir das an einem konkreten Beispiel erklären? Worin liegt denn der Unterschied zwischen beispielsweise FSK 0 und FSK 6?

Die Frage ist sehr schwer pauschal zu beantworten, da jeder Inhalt individuell eingeschätzt wird und eine Vielzahl von jugendschutzrelevanten Faktoren jeweils ausschlaggebend sein können für eine Altersfreigabe. Wenn man jetzt an die Spanne zwischen 0 und 6 Jahren denkt, wäre ein exemplarisches Beispiel, inwiefern ein Spannungsbogen schnell aufgelöst wird, was einer Rezeption von Kleinkindern unter 6 Jahren entgegenkommen würde. Wird der Bogen über den kompletten Film bzw. einen langen Zeitraum gehalten, setzt das schon eine gewisse Medienkompetenz und emotionale Belastbarkeit voraus, die dann eher im Bereich der Grundschulkinder vermutet werden kann.

Welche Kriterien spielen dann beispielsweise bei einer Einstufung von 12 bis 16 eine Rolle?

Bei den Altersfreigaben ab 12 und ab 16 gibt es eine große Vielzahl von Faktoren, die relevant sind. Ein typisches Beispiel wäre die Darstellung von Gewalt. Das ist ein Jugendschutzthema, das in sehr vielen filmischen Inhalten eine Rolle spielt.

"Bei der Entscheidung spielen eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle"

Können Sie das konkretisieren?

So könnte es bei der Alterseinstufung den entscheidenden Unterschied machen, ob beispielsweise eine dargestellte Gewalt kritisch eingeordnet wird und zusätzlich mit einer negativen Aussage verbunden ist zum Beispiel in Form von negativen Sanktionen für den Täter oder die Täterin. Wenn das nicht oder nur in abgeschwächter Form der Fall ist, und der Täter oder die Täterin vielleicht im Film eine Hauptfigur ist, die sich in gewisser Weise auch zur Identifikation für Jugendliche eignet, spräche das tendenziell eher für eine höhere Freigabe. Aber das sind jetzt wirklich sehr schematische Beispiele. Bei der Entscheidung spielen eine Vielzahl von verstärkenden und relativierenden Faktoren eine Rolle.

Wie muss ich mir eine solche Einschätzung vorstellen? Ist das eine Person oder eine Gruppe von Personen, die einen Film sichtet und nach diversen Kriterien einschätzt?

Wir arbeiten derzeit mit zwei unterschiedlichen Prüfverfahren. Im Regelfall ist es so, dass zum Beispiel ein Kinofilm in einem pluralen Prüfgremium von fünf Prüferinnen und Prüfern, die ehrenamtlich tätig sind, von Anfang bis Ende gesichtet wird. Danach wird über die Wirkung auf Kinder und Jugendliche diskutiert. Es ist eine ungerade Anzahl von Personen, um letztlich mit einfacher Mehrheit eine Entscheidung zu treffen, also eine Altersfreigabe festzulegen. Dabei ist der Ausschuss völlig souverän in seiner Entscheidung und kann alle Faktoren, die er für wirkungsrelevant hält, berücksichtigen. Die Prüferinnen und Prüfer kommen aus verschiedenen gesellschaftlich relevanten Bereichen. Viele von ihnen haben praktische Erfahrung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen oder kommen aus dem Bereich der wissenschaftlichen Forschung.

Wie sieht das zweite Prüfungsverfahren aus?

Das zweite Prüfverfahren ist noch relativ neu und wird seit April 2020 praktisch angewendet. In diesem kriterienbasierten Verfahren arbeiten wir mit einem Klassifizierungs-Tool, welches jugendschutzrelevante Sachverhalte in standardisierter Form erfasst. Insgesamt sind es etwa 100 Kriterien, die eine Rolle spielen. Auch hier werden kontextabhängige, verstärkende und relativierende Faktoren berücksichtigt. Das Prüfverfahren ist zudem in einen Qualitätsmanagementprozess eingebunden, so dass mindestens zwei Personen jeweils involviert sind. Es ist explizit keine künstliche Intelligenz, die automatisiert Altersbewertungen vornimmt.

"So machen wir transparent, warum ein Film eine bestimmte Altersfreigabe erhalten hat"

Sind diese Einschätzungen von Mensch oder Maschine einsehbar?

Wir veröffentlichen auf unserer Homepage Kurzbegründungen für alle Kinoveröffentlichungen zum Kinostart. So machen wir transparent, warum ein Film eine bestimmte Altersfreigabe erhalten hat. Das ist ganz bewusst ein Service für Eltern und Erziehungsberechtigte, die ihre eigenen Kinder naturgemäß am besten einschätzen können. Denn es gibt durchaus Aspekte, die man im Rahmen einer allgemeinen Prüfung nicht immer individuell berücksichtigen kann. Beispielsweise wird ein filmischer Inhalt, der sich mit dem Thema Trennung auseinandersetzt, auf Kinder und Jugendliche, die gerade selbst eine Trennungserfahrungen erlebt haben, anders und wahrscheinlich emotional belastender wirken, als auf ein Kind oder einen Jugendlichen, wo das nicht der Fall ist.

Was passiert, wenn ein Studio oder Verleiher mit der Einschätzung der FSK nicht einverstanden ist?

Was immer möglich ist: Antragsteller und Antragstellerinnen können gegen eine Entscheidung, mit der sie nicht einverstanden sind, in Berufung gehen. Dann würde ein Gremium, welches mit Personen besetzt ist, die bislang an der Prüfung nicht beteiligt waren, eine Einschätzung vornehmen. Dieses kann dann auch zu einem anderen Ergebnis kommen. Aus unserer Sicht ist die Berufung ein sehr sinnvolles Instrument, da es im Bereich der Jugendschutzbewertung selten nur schwarz/weiß gibt und es bei jeder Entscheidung eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen gilt. Denn letztlich sind die fünf Altersgruppen, in welche es Inhalte einzuordnen gilt, auch nur ein grobes Raster. Da ist es klar, dass man sich immer an den Jüngsten einer Altersgruppe orientieren muss. Zudem sind Jugendschutz-Entscheidungen nicht in Stein gemeißelt: 10 Jahre nach der Veröffentlichung ist eine Neueinschätzung möglich.

Warum das?

Gesellschaftliche Wert- und Normvorstellungen unterliegen einem gewissen Wandel. Ein Beispiel: In den 60er, 70er und auch 80er Jahren hat es eine große Rolle gespielt, ob dargestellte Liebesbeziehungen in Filmen in einem heterosexuellen oder einem homosexuellen Kontext stattgefunden haben. Das war damals relevant für die Jugendschutzbeurteilung eines Inhaltes - heute überhaupt nicht mehr. Hier haben sich glücklicherweise nicht nur gesellschaftliche Normen verändert, sondern, basierend darauf, auch die Jugendschutzbewertungen bei solchen Sachverhalten.

Die FSK war schon immer ein Spiegel der Gesellschaft. Das liegt daran, dass die Entscheidungen in den bereits erwähnten Prüfgremien von ehrenamtlichen Prüfern und Prüferinnen aus der Mitte der Gesellschaft getroffen werden. Demzufolge spiegeln sich gesellschaftliche Strömungen im Kleinen in diesen Prüfausschüssen wider.

Zur Person: Stefan Linz ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK). Nach dem Studium der Filmwissenschaft, Publizistik und Psychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz war er tätig als Online-Redakteur und Medienpädagoge bei jugendschutz.net sowie als Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft, der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen und der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle.
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