Der "Tatort: Nachbarn" wagte wieder einmal den Blick über deutsche Gartenzäune. Hinter denen verbarg sich am Sonntagabend ein komplexes Familiendrama. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die nach dem Mord an ihrem Nachbarn nur noch flüstern kann. Die "Tatort"-Psychologin diagnostiziert eine "dissoziative Dysphonie". Gibt es das wirklich?

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Komplexe Familienbande: Im "Tatort" ermordet Sandra Voigt (Claudia Eisinger) ihren Nachbarn. Dieser hatte sie erpresst, weil er herausbekam, dass Voigt Jahre zuvor ihre eigene Mutter ermordet hatte. Die Mutter wollte sie damals zwingen, das eigene Kind abzutreiben, denn der Vater war der Ehemann der Mutter.

Nach beiden Morden konnte Sandra Voigt plötzlich nur noch flüstern. Die Psychologin attestiert ihr im "Tatort" eine "dissoziative Dysphonie". Aber was ist das?

Dissoziativ bedeutet "abgespalten". Dissoziationen in einer leichten Form kennt eigentlich fast jeder, wenn man zum Beispiel durch etwas völlig gefesselt ist und dadurch andere Wahrnehmungen nicht mehr ins Bewusstsein gelangen können. Für einen Moment kann man also eine Gesamtsituation nicht vollständig erfassen, Bewusstsein, Motorik, Wahrnehmung, Gedächtnis und Identität "fallen auseinander".

Was ist eine dissoziative Störung?

Bei einer dissoziativen Störung sind die Symptome schwerwiegender, die Betroffenen leiden darunter. Dissoziative Störungen können sich durch verschiedene Symptome wie zum Beispiel eine Amnesie oder auch Empfindungsstörungen äußern.

Eine Dysphonie hingegen ist ein Begriff aus der Logopädie und bezeichnet ganz allgemein eine Stimmstörung. Stimmstörungen bei Erwachsenen können funktionelle oder auch organische Ursachen haben, zum Beispiel eine hohe Belastung der Stimme oder organische Veränderungen des Kehlkopfes. Dysphonien äußern sich zum Beispiel in längerer Heiserkeit, geringerer Belastbarkeit der Stimme oder Schmerzen.

Im "Tatort" soll die Täterin nun eine Kombination aus beidem haben. Über diese "dissoziative Dysphonie" sagt die Psychologin im Film: "Ein traumatisch besetzter Teil ihrer Vergangenheit ist abgespalten worden und kommt jetzt wieder hoch, wird also reaktualisiert." Aber gibt es diese Störung wirklich und was bedeutet sie?

Dissoziative Dysphonie? Wenn ja, dann aber selten

Ob es tatsächlich eine solche Sprachstörung gibt, wie sie im "Tatort" dargestellt wird, ist schwer zu sagen. Wenn eine dissoziative Dysphonie auftritt, dann aber nur sehr selten und mit einem schweren traumatischen Hintergrund, erklärt Psychotherapeut und Trauma-Experte Dr. Ralf Vogt: "Eine solche Sprachstörung wie im 'Tatort', also die Unfähigkeit zu sprechen oder nur leise zu sprechen, hat eigentlich eher bewusstseinsfähige-funktionelle oder organische Gründe."

Weiter sagt Dr. Vogt: "Ich kenne eine Dysphonie, die durch ein Trauma ausgelöst wird, im Rahmen meiner Behandlungserfahrungen so noch nicht." Wie man dann bei dissoziativen Störungen reagiert, ist laut dem Trauma-Experten sehr komplex.

Im "Tatort" soll diese dissoziative Dysphonie erstmals durch den Mord an der eigenen Mutter ausgelöst worden sein. Nach Vogts Einschätzung kann man eine solche Tat tatsächlich als dissoziative Handlung werten, wenn sie die Spätfolge einer Traumatisierung ist. Dann könnten laut Vogt auch traumatisch bedingte funktionelle Sprachstörungen auftreten.

So etwas sei aber in der Regel nur die Spitze eines Eisberges: "Die Tochter hat die Mutter ja aus einem Grund umgebracht, der aus Sicht der Täterin nachvollziehbar ist. Wenn eine Mutter ihre eigene Tochter zwingt, ihr Kind abzutreiben, dann hatte sie meist schon eine hinreichend schlechte Beziehung zu ihrem Kind."

Auch andere Gründe für Sprachstörungen denkbar

Funktionelle Sprachstörungen können nach Einschätzung von Trauma-Experte Vogt aber auch aus anderen Gründen auftreten, zum Beispiel infolge von Konflikten. Hier könne man den Grund der Störung noch nachvollziehen: "Wenn man zum Beispiel Angst vor seinem dominanten Vater hatte, kann man später bei anderen Autoritäten wie dem eigenen Chef Probleme bekommen, weil der eben in der Wahrnehmung so wirkt wie der eigene Vater", erklärt Vogt.

Dieses Beispiel hat laut dem Trauma-Experten funktionell noch eine bewusstseinsfähige Logik. Bei dissoziativen Störungen seien die Wege aber paradoxer, die Logik dahinter nicht so direkt: "Eine dissoziative Störung ist eine sehr komplexe Trauma-Nachfolgestörung, die sich durch eine hohe Gewalterfahrung einstellt. Wichtig ist, dass man das nicht mit einer Schizophrenie verwechselt."

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