Sexuelle Gewalt gegen Kinder zählt zu den schrecklichsten Vorstellungen von Eltern. So verbreitet die Sorge, so unbekannt wichtige Fakten zum Thema. Sind Fremde, die mein Kind vom Spielplatz weglocken, wirklich die größte Gefahr? Warum dieser Irrtum schwerwiegende und gefährliche Folgen hat.
"Sei vorsichtig und mit niemandem mitgehen!" Wer sein Kind ab einem gewissen Alter alleine losziehen lässt, hat schnell Horrorszenarien vor Augen. Das Kind könnte entführt oder Opfer von sexueller Gewalt werden - eine weit verbreitete Angst.
"Und sie ist nachvollziehbar", sagt Silke Noack, Leiterin des Vereins N.I.N.A. und des "Hilfetelefons Sexueller Missbrauch". Doch die große Sorge vieler Eltern, ein Unbekannter könne sich am eigenen Kind vergreifen, verschleiere eine noch viel realere Gefahr: "Tatsächlich stammen die Täter meistens aus dem sozialen Umfeld. Es ist wichtig, das zu wissen, denn gerade diese Taten bergen die große Gefahr, übersehen zu werden."
Wissen kann schützen: Je mehr Fakten Eltern zum Thema sexualisierter Gewalt kennen, desto eher erkennen sie echte Risiken für ihr Kind. Die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung (DGfPI) und der Verein N.I.N.A. klären daher über häufige Irrtümer auf. Hier einige wichtige Fakten:
1. Kinder und Eltern kennen meist die Tatperson
In rund 80 Prozent der Fälle sexualisierter Gewalt stammen die Täter aus der eigenen Familie beziehungsweise dem nahen sozialen Umfeld. "Sehr häufig sind es Menschen, denen das Kind vertraut hat und die die Eltern nie im Verdacht haben würden." Deshalb werden solche Fälle häufig übersehen. Rund die Hälfte der Anrufenden beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch sind Erwachsene, die als Kinder missbraucht wurden und erst Jahre oder Jahrzehnte später darüber sprechen.
Auch die Polizei geht von einer gewaltigen Dunkelziffer aus. Was aus der Kriminalstatistik über die polizeilich registrierten Fälle hervorgeht:
- 13.670 Fälle wurden 2019 angezeigt (mehr als zehn Prozent mehr im Vergleich zu 2018).
- Mit dem Täter verwandt waren knapp 20 Prozent der Opfer.
- Weitere fast 25 Prozent waren mit dem Täter bekannt beziehungsweise befreundet.
- Mehr als zwölf Prozent hatten mit dem Täter zuvor eine flüchtige Bekanntschaft gehabt.
Gerade aber bei den Fällen, in denen die Tatperson der Familie bekannt ist oder sogar dazugehört, schätzt die Polizei die Dunkelziffer als besonders hoch ein: "Es ist wichtig zu wissen: Taten von Fremden werden eher angezeigt als der sexuelle Kindesmissbrauch im sozialen Umfeld." Ein Grund dafür sei die emotionale und häufig auch existentielle Abhängigkeit des Opfers zum Täter, genauso wie die Angst der Angehörigen vor den Folgen einer Anzeige, zum Beispiel einem Gerichtsverfahren.
2. Kinder hüten oft das schreckliche Geheimnis
Ein weiterer häufiger Irrtum ist, Kinder würden ihren Eltern erzählen, wenn ihnen so etwas einschneidend Schreckliches widerfährt. "Gerade, wenn die Täter mit dem Kind bekannt sind, wissen sie sehr gut, mit welchen Drohungen sie es zur Geheimhaltung verpflichten können", erklärt Noack. Zudem spielten Scham und Schuld eine große Rolle: "Das Kind spürt, dass es falsch ist, was da passiert ist, aber denkt, es habe ja mitgemacht. Man kann sich kaum ausmalen, welchen Druck all das bedeutet."
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3. Täter oft Menschen, die allseits Vertrauen genießen
Auch sollte man sich nie in absoluter Sicherheit wiegen, das Kind sei bei all seinen Bezugspersonen gut aufgehoben. "Einen Täter oder eine Täterin erkennen Sie in aller Regel nicht auf Anhieb, denn diese Menschen erschleichen sich ja erst einmal das Vertrauen und genießen oft hohes Ansehen im sozialen Umfeld", betont Noack. "Oft ist es der, bei dem man es am wenigsten vermuten würde: der liebe Onkel, die enge Freundin oder der netteste und engagierteste Fußballtrainer."
Ihrer Erfahrung nach werden deshalb diese Täter oder Täterinnen oft nicht oder erst nach Jahrzehnten enttarnt. Beim Kind spiele dabei häufig eine Sorge mit, die es schweigen lässt: "Das wird mir ohnehin niemand glauben."
5. Täter sind Pädophile? Ein Irrtum
Weit verbreitet ist zudem die Annahme, bei den Tätern und Täterinnen handele es sich grundsätzlich um Pädophile. Die sexuelle Neigung ist zum einen selten das Motiv, zum anderen trifft es dieser Begriff, den man umgangssprachlich im Zusammenhang mit sexueller Gewalt gebraucht, eigentlich nicht:
- Pädophilie bedeutet zunächst eine sexuelle Neigung zu Kindern als solche.
- Wird diese Neigung sexuell ausgelebt, spricht man von Pädosexualität. Dieser Begriff beinhaltet auch, dass jemand sich sexuell ausschließlich zu Kindern hingezogen fühlt.
Auch wenn es kein einheitliches Täterprofil gibt: Die sexuelle Neigung ist in den wenigsten Fällen der Beweggrund bei sexualisierter Gewalt, wie es in der Fachsprache korrekt heißt. "Der Bergriff 'sexualisierte Gewalt' veranschaulicht: Es geht um Gewalt, es geht um Ausübung von Macht und darum, sich seinem hilflosen Opfer gegenüber überlegen zu fühlen. Dieser Wunsch ist tatsächlich meistens das wesentliche Motiv. Nur bei einigen Tätern und wenigen Täterinnen kommt eine sexuelle Fixierung auf Kinder, also Pädosexualität, hinzu", erläutert Noack.
5. Täter sind nicht immer Männer
Dieses hauptsächliche Motiv für sexualisierte Gewalt, Macht über jemanden auszuüben, tritt nicht nur bei Männern auf. Es gibt auch Täterinnen: Bei der DGfPI schätzt man, dass sogar bis zu 15 Prozent der Taten von Frauen ausgeübt werden.
6. Auch viele Jungen als Opfer
Die DGfPI weist ausdrücklich darauf hin, dass eine ebenfalls häufige Ansicht, fast immer seien Mädchen Opfer, falsch ist: Im vergangenen Jahr hat die Polizei 15.701 Opfer sexueller Gewalt registriert, davon waren immerhin ein Drittel Jungen.
7. Sportverein viel häufiger als gedacht Tatort
Dass Missbrauch überall geschieht, zeigt eine repräsentative Studie der Universitätsklinik Ulm von 2019. Demnach kommt es in Sportvereinen viel häufiger zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als bisher angenommen. Die Autoren der Studie haben die Zahl der möglichen Fälle nach Befragungen hochgerechnet und kommen auf mehr als 200.000 Fälle. "Die Dimension ist riesig, mindestens genauso groß wie in den Kirchen", sagte Jörg M. Fegert, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Ulm vor wenigen Tagen dem ZDF.
Alarmierend: Gerade einmal die Hälfte der Vereine in Deutschland hält aber Prävention sexualisierter Gewalt für ein relevantes Thema. Und nur jeder zehnte Verein hat einen Kinderschutzbeauftragten laut der Studie Safe Sport der Deutschen Sporthochschule Köln und der Uniklinik Ulm.
8. Was hilft: Prävention, Augen offen halten
Sexualisierte Gewalt - eine große Sorge und doch ein Thema, bei dem viel verdrängt wird. "Schauen Sie nicht weg, wenn Sie einen Verdacht haben - auch wenn es nicht um Ihr eigenes Kind geht", appelliert Noack. Niemand mache etwas falsch, wenn er sich mit einem Verdacht, sei er auch noch so leise, kostenlos und anonym an eine Beratungsstelle wende.
Immer häufiger binden auch Schulen Präventionskurse von externen Experten in den Unterricht mit ein. Ebenso auch Sportvereine - doch hier gebe es noch viel Luft nach oben, wie Noack bemerkt: "Vorbehalte, ein solches Angebot könnte einen falschen Eindruck bei Vereinsmitgliedern wecken, sind fehl am Platz. Ganz im Gegenteil: Es vermittelt doch vor allem eines: Die Sicherheit und das Wohlergehen der Kinder sind hier ein wichtiges Anliegen."
Verwendete Quellen:
- Interview mit Silke Noack, Sozialpädagogin und Leiterin des Verein N.I.N.A. e. V. (Nationale Infoline, Netzwerk und Anlaufstelle zu sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen) in Kiel.
- Polizeiliche Kriminalstatistik
- Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung (DGfPI)
- Unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs
- Verein gegen Missbrauch e.V.
- ZDF
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