- Mit den Eltern über Probleme sprechen? Oft schwierig für Kinder und Jugendliche, wenn einem das Thema peinlich ist - oder die Eltern selbst das Problem sind.
- Seit 40 Jahren gibt es für diese Fälle die "Nummer gegen Kummer": Was dort am häufigsten zur Sprache kommt, erzählt eine Mitarbeiterin im Interview.
"Mein Problem ist nicht so wichtig, damit will ich gar nicht erst die Leitung blockieren": So denken vielleicht viele, obwohl ihr Herz gerade schwer oder ihr Bauch voller Wut ist. Dabei ist guter Rat nur einen kostenlosen Anruf entfernt.
Rund 3.200 ausgebildete Ehrenamtliche von der Beratungsstelle Nummer gegen Kummer e. V. haben 2020 insgesamt fast 100.000 Mal Kinder und Jugendliche beraten.
"Kein Problem ist zu klein", macht Nora Malmedie vom Dachverband Mut. Im Interview erzählt die Psychologin, was die häufigsten Themen am Kinder- und Jugendtelefon sind – und weshalb sie hofft, dass künftig noch mehr Menschen anrufen.
Frau Malmedie, fällt Ihnen spontan ein Satz ein, der bei der "Nummer gegen Kummer" besonders häufig fällt?
Nora Malmedie: Was wir wirklich oft hören: "Es ist das erste Mal, dass ich darüber spreche." Egal eigentlich, um welches Thema es geht und ob es sich um eine schwere Krise oder ein eher alltägliches Problem handelt.
Eltern gehen ja oft davon aus: Wir bekommen schon mit, wenn unser Kind etwas Großes auf dem Herzen hat. Ein Trugschluss?
Es ist ganz natürlich, dass Eltern nicht alles mitbekommen. Zunächst einmal haben sie ja auch ihre eigenen Themen. Nicht umsonst gibt es das Sprichwort: "Es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder aufzuziehen." Alles zu stemmen mit Beruf und Familie, ist eine große Herausforderung. Zum anderen teilen sich Kinder und Jugendliche nicht immer mit. Bei bestimmten Themen sehen sie gerade ihre Eltern nicht als die richtigen Ansprechpartner.
Welche Themen zum Beispiel?
Fragen zur Sexualität etwa, aber auch Streitereien im Freundeskreis, Liebeskummer oder die angespannte Situation in der Familie.
Sexualität größtes Thema für Jungen, Familienprobleme für Mädchen
Gibt es Unterschiede bei den Geschlechtern?
In der Statistik sehen wir, dass Jungen eher zu Themen rund um die Sexualität anrufen – um sich Rat oder schlichtweg Informationen zu holen. Mädchen hingegen melden sich häufiger wegen Problemen innerhalb der Familie.
"Beziehung zu den Eltern" ist laut Ihrer Statistik das häufigste Thema in der Beratung. Können Sie das genauer beschreiben?
Oft geht es darum, dass sich ein Kind oder Jugendlicher ungerecht behandelt fühlt. Oder: "Ich soll schon wieder mein Zimmer aufräumen, das nervt!" Viele denken, bei uns rufen nur Menschen in schweren Krisen an – Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch. Oft geht es aber um diese klassischen Streitigkeiten, wie sie in jeder Familie vorkommen. Wir versuchen dann, ein bisschen zu vermitteln.
Wie genau läuft das dann ab?
Meistens hilft es schon, wenn man sich einfach mal auslassen kann. Das ist eine Erfahrung, die viele gar nicht machen in ihrem Alltag, sich mit den eigenen Themen gesehen zu fühlen. Oft hat es sich nach einem Gespräch schon erledigt: Man hat eine freundliche Stimme gehört und konnte sich jemandem anvertrauen, der wirklich zuhört. Und auch falls das Gespräch keine so große Hilfe war, ist ein sehr wichtiger Schritt getan: Ich bin tätig geworden. Das ist alles besser, als es nur mit sich selbst auszumachen.
Auch Ihr Elterntelefon läuft heiß: 2020 haben Sie knapp 18.000 Mal Eltern am Telefon beraten. Etwas mehr als 3.000 dieser Anrufe hatten Corona-Bezug: Ist das nicht überraschend wenig?
Es ist gut möglich, dass weit mehr Anrufe mit dem Lockdown zusammenhingen – wenn es etwa um Überforderung, Erschöpfung, Einsamkeit oder Ähnliches ging. Womöglich kam der Corona-Bezug nicht immer deutlich zur Sprache. Insgesamt ist die Zahl der Anrufe und der Beratungen 2020 jedenfalls gestiegen.
Was sehen Sie als besonders häufiges Problem in Familien?
Da sticht Corona schon sehr heraus, es war so eine belastende Zeit für Familien. Mein persönliches Gefühl aufgrund der Beratung: Für Kinder war die enorme Belastung der Eltern schwierig, weil dadurch weniger Zeit für sie blieb. Für Eltern wiederum war ein großes Thema die Digitalisierung: Kinder waren mehr denn je digital unterwegs und es fiel schwer zu unterscheiden: Lernt mein Kind da eigentlich oder spielt es die ganze Zeit?
Langeweile als Anrufgrund
In Ihrer Statistik taucht auch "Langeweile" als häufiger Anrufgrund der Kinder auf. Das überrascht – ist die Jugend nicht sehr durchgetaktet heutzutage?
Das stimmt, aber in den Gesprächen merken wir, dass viele auch nichts mit ihrer Zeit anzufangen wissen. Oder - eine Vermutung von mir: Sie sind zwar beschäftigt, machen dabei aber womöglich nicht die Erfahrungen, die sie wirklich erfüllen.
Was raten Sie dann?
Unser Ansatz ist immer: Hilfe zur Selbsthilfe. Wir machen keine konkreten Vorschläge zur Freizeitgestaltung, sondern überlegen gemeinsam mit dem Kind: "Was wäre denn etwas, was du früher gerne gemacht hast?" Man kann Dinge immer besser annehmen, wenn sie aus einem selbst heraus entstanden sind. Und das gilt eigentlich für alle Themen, die bei uns landen: Wie kann man selbst etwas bewirken und in eine Veränderung kommen? Manchmal gibt es auch ein dahinterliegendes Problem: Kinder und Jugendliche melden sich aus – wie sie sagen - Langeweile, doch im Gespräch kommen noch ganz andere, schwerwiegendere Dinge zum Vorschein.
Eine UNICEF-Studie brachte kürzlich bestürzende Zahlen zutage: Schätzungsweise jeder siebte junge Mensch weltweit lebt demzufolge mit einer diagnostizierten psychischen Beeinträchtigung oder Störung. Alle elf Minuten nimmt sich jemand zwischen 10 und 19 Jahren das Leben. In der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen ist Suizid die vierthäufigste Todesursache. Haben Sie diese Zahlen überrascht?
Die Zahlen sind heftig. Gerade wenn man bedenkt: Das sind junge Menschen, die sich gerade in einer Übergangsphase befinden und ihre Identität entwickeln. Wo gehöre ich hin? Wo bin ich? Es ist erschütternd zu sehen, dass so viele junge Menschen keinen Weg gefunden haben, damit umzugehen und nicht die für sie richtige Hilfe bekommen haben. Zwar trauen sich immer mehr Menschen, über ihre Probleme zu sprechen. Doch offensichtlich haben vielen dieser Menschen entsprechende Unterstützungsangebote gefehlt – hier ist noch viel Luft nach oben.
- Deutschland: 0800/1110-111 und 0800/1110-222
- Österreich: Notruf 142
- Schweiz: Notruf 143
Hilfe annehmen: Zeichen von Stärke
Ihre Beratung – auch die für Eltern – ist nur einen kostenlosen Anruf entfernt. Trotzdem kostet es viele Überwindung, sich Hilfe zu holen. Warum?
Bei psychischen Problemen besteht oft das Gefühl: "Mein Problem interessiert sowieso niemanden und mir kann auch keiner helfen." Dieses geringe Selbstwertgefühl ist Teil des Krankheitsbilds etwa bei Depressionen. Bei Erwachsenen wie Kindern spielt auch Scham eine große Rolle. Dabei ist man zum einen mit keinem Thema allein – es gibt immer andere, denen es auch so geht! Auch befürchten viele: "Mein Thema ist doch nicht groß genug." Deshalb betonen wir immer: Kein Problem ist zu klein!
Tun sich Kinder besonders schwer?
Gerade Kinder und Jugendliche haben häufig Angst, mit einem Anruf womöglich etwas in Bewegung zu bringen: Wenn ich jemandem offenbare, wie es mir wirklich geht, bin ich am Ende womöglich schuld, dass die Familie auseinanderbricht. Deshalb betonen wir immer: Unsere Angebote sind anonym. Es wird nichts angestoßen, was nicht erwünscht ist. Es kann nichts passieren. Du kannst so viel erzählen, wie du möchtest, du setzt die Grenze, wie viel du erzählen möchtest. Und: Es ist ein Zeichen von Stärke und nicht von Schwäche, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hier können Eltern ihren Kindern auch Vorbild sein, indem sie Beratungsangebote in Anspruch nehmen.
Wenn Eltern merken, irgendetwas bedrückt mein Kind, es will aber offensichtlich nicht darüber sprechen: Wäre es eine gute Idee, auf Hilfsangebote hinzuweisen?
Je nach Familie, Situation, Problem und Beziehung zum Kind kann es erst mal eine gute Idee sein, selbst das Gespräch anzubieten. Sich interessieren für das Kind, zeigen, dass man da ist, ist wichtig. Da das aber nicht immer angenommen wird, hilft es, Kinder auf andere Möglichkeiten hinzuweisen. Wir gehen sehr viel den Weg über Schulen, sodass junge Menschen dort auf Beratungen aufmerksam werden. Als Eltern könnten Sie bei den Lehrern anregen, solche Angebote im Unterricht zu besprechen. Auf jeden Fall halte ich es für sehr wertvoll, wenn junge Menschen nicht erst bei akuten Problemen davon erfahren, sondern schon viel früher. In einer Krise bin ich vielleicht ohnehin überfordert. Habe ich aber schon öfter davon gehört, dass es diese Beratungsangebote gibt: Das schafft Mut und Vertrauen, es einfach mal auszuprobieren.
- Kinder- und Jugendtelefon: 116 111. Mo-Sa, 14 bis 20 Uhr oder online
- Elterntelefon: 0800 111 0 550. Mo-Fr 9 bis 17 Uhr; Di und Do bis 19 Uhr
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