• Kinder haben im Lockdown deutlich weniger Bezugspersonen - und brauchen ihre Eltern umso mehr.
  • Eine Therapeutin erklärt, wie wir unsere Kinder in der Krise stärken und von welcher Vorstellung sich Familien verabschieden sollten.

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Eltern spüren schon lange, was Studien belegen: Kinder leiden sehr unter der Pandemie und den eingeschränkten sozialen Kontakten. Sie brauchen die Zuwendung ihrer Eltern mehr denn je. "Und das in einer Zeit, die mit Beruf und Homeschooling viele hart an die Grenze der eigenen Belastbarkeit bringt. Wir haben so viel zu meistern - und wollen unseren Kindern helfen, so gut wir können", beschreibt die Münchner Familientherapeutin Anette Frankenberger den Balanceakt im Gespräch mit unserer Redaktion.

Kann all das überhaupt gelingen? Frankenberger weist auf einen typischen Fehler hin, den viele Eltern gerade machen: "Sie versuchen, möglichst einen Normalzustand herzustellen. Das kann aber nur scheitern. Wir befinden uns in einer gewaltigen Ausnahmesituation. Sich das bewusst zu machen, hilft, Druck rauszunehmen. Das ist jetzt für den Familienfrieden entscheidend."

Corona-Lockdown mit Kindern: Hauptsache, es funktioniert

Alles immer möglichst gut hinkriegen zu wollen, was wir uns vorgenommen haben, sei eine typische Haltung in unserer Gesellschaft: "Jetzt ist dafür aber der denkbar schlechteste Zeitpunkt." Die Therapeutin ermutigt, Ansprüche herunterzuschrauben: "Kinder profitieren von entspannten Eltern. Dafür müssen wir uns von Idealvorstellungen verabschieden. Fragen Sie sich: Wie geht es jetzt möglichst leicht?"

Sie verdeutlicht es am Beispiel Homeschooling:

  • Eltern sind keine Lehrer und müssen es auch nicht sein.
  • Zu Hause muss es nicht möglichst so wie in der Schule laufen: "Weil Sie eben nicht in der Schule sind, darf es jetzt auch ruhig mal unkonventionell sein."
  • "Hauptsache, es funktioniert!", lautet der Maßstab. Ein Beispiel: "Das Kind will die Hausaufgaben am Boden liegend machen und will das unbedingt ausprobieren. Lassen Sie es - und wenn es funktioniert, behalten Sie es bei, wenn nicht, suchen Sie einen anderen Weg. Noch einmal: Hauptsache, es klappt."
  • Struktur, die sonst die Schule automatisch liefert, ist wichtig. "Aber: Planen Sie nicht die ganze Woche durch: Ziel ist, diesen Tag gut hinzubekommen."
  • Machen sie den Tagesplan am Morgen oder Abend vorher: "Wann wird gearbeitet, wann ist Mittagspause, wann gehen wir raus an die frische Luft? So wissen Groß und Klein, woran sie sind und wann gemeinsame Freizeit-Aktivitäten stattfinden."
  • Wenn dann die Technik spinnt, das Homeschooling den Zeitplan sprengt: "Bewahren Sie Ruhe. Struktur ist immer ein Vorschlag, kein Gesetz. Besprechen Sie alle gemeinsam: Was machen wir jetzt stattdessen?"

Was Kinder stolz und glücklich macht

Für den harmonischen Ablauf und eine gesunde Entwicklung der Kinder gibt Frankenberger folgenden Tipp: "Beziehen Sie sie altersgemäß und möglichst viel mit ein. Wo möglich, lassen Sie Ihrem Kind eine Wahl. Lassen Sie es bestimmte Dinge versuchen."

Der Fachbegriff aus der Psychologe dazu heißt: Selbstwirksamkeit. "Das Kind lernt: Ich kann etwas aus eigener Kraft bewirken. Diese äußerst wichtige Erfahrung macht es nur, wenn die Eltern es auch lassen." Das gelte für Matheaufgaben ebenso wie etwa fürs Kochen: "Lassen Sie es üben - auch wenn sie zunächst Chaos in der Küche befürchten. Je nach Alter wird es lernen, Spaghetti für die ganze Familie zu machen - wahrscheinlich sogar eher, als Sie denken."

Wenn ein Kind etwas geschafft hat, freut es sich über Wertschätzung. Wichtige Sätze, die Eltern gar nicht oft genug sagen können:

  • "Danke, dass das so gut geklappt hat."
  • "Toll, du hast alles erledigt!"
  • "Ich sehe dich."
  • "Ich höre dir zu."

Studie: Aktives Zuhören ist wichtiger Schlüssel - generell

Aufschlussreich für Eltern ist vor allem ein Fazit, dass die Forscher der Universitäten Tübingen und Luxemburg aus ihrer Studie "COVID KIDS" zogen: Die Situation der Kinder ließe sich durch aktives Zuhören der Erwachsenen verbessern.

"Wir neigen dazu, Kinder schnell zu unterbrechen und gleich ,Nein, das geht jetzt nicht' zu sagen", erläutert dazu Frankenberger. Aktives Zuhören bedeute konkret, das Kind sprechen zu lassen, wirklich bis zum Ende zuzuhören und nachzufragen. Zum Beispiel:

  • "Warum willst du denn fernsehen?", "Was interessiert dich denn?", "Warum findest du diese Serie so gut?", "Vielleicht können wir das ja nach dem Aufräumen einrichten?"

Wer auf das Kind eingeht, verhindert Frust. Im aktiven Zuhören sieht Frankenberger einen wichtigen Schlüssel zu Selbstwirksamkeit und einem gesunden Selbstwertgefühl: "Statt einfach nur klare Ansagen zu machen, suchen Sie mit den Kindern Lösungen. Wir Erwachsene mögen es ja auch nicht, wenn über unsere Köpfe hinweg entschieden wird."

Aktives Zuhören lohne sich auch beim berühmten Thema Langeweile: "Wimmeln Sie das Kind nicht ab, wenn es jammert ,Ich weiß nicht, was ich machen soll!' Lassen Sie es erzählen, wie es ihm gerade geht. Gut möglich, dass es dabei bereits Ideen entwickelt. Wir müssen nicht alles für sie lösen, sie können so viel selbst. Darin können wir sie schon durch aktives Zuhören bestärken."

Bei Fragen zum Coronavirus rät sie, zusammen auf kindgerechten Seiten im Netz zu recherchieren. "Kinder halten es aus, wenn die Eltern auch mal sagen ,Ich weiß es nicht. Lass es uns doch gemeinsam herausfinden'."

Weniger Kontakte lassen sich nicht "wegtrösten"

Am meisten leiden Kinder laut der "COVID KIDS"-Studie unter den reduzierten Kontakten. "Wenn Kinder ihre Freunde und Verwandten vermissen, sollte man nicht versuchen, das wegzutrösten. Das wäre ein Fehler", betont Frankenberger. Wieder rät sie zum aktiven Zuhören:

  • "Sprechen Sie mit dem Kind darüber. Erzählen Sie dem Kind, wenn es Ihnen ebenso geht. Die Situation ist traurig und belastend. Es ist wichtig, dass Kinder darin auch bestätigt werden, damit sie nicht denken: Mit meinen Gefühlen stimmt etwas nicht. Erst wenn ich diese Gefühle zulassen kann, kann ich wiederum eine Lösung finden, damit umzugehen."

Dass nun viele Enkel oft und lange mit ihren Großeltern telefonieren und ihnen per Video neu gebaute Lego-Bauten zeigten, sei kein hundertprozentiger Ersatz. "Aber: Besser als nichts! Vor allem, wenn Mama und Papa auch noch arbeiten müssen und das Kind so eine Weile beschäftigt ist." Überhaupt sei das ein Satz, der gerade auf vieles passe: "Besser als nichts. Auch mit den Kindern kann man immer wieder gemeinsam den Blick auf das richten, was man hat und was gut geht - nicht nur auf das, was gerade nicht geht."

Ein guter Zeitpunkt sei das Abendessen: "Wofür bin ich heute dankbar? Dankbarkeit ist ein sehr wichtiger Faktor für die seelische Gesundheit. Was war gut? Was ist heute gelungen?" Wenn es etwas gibt, was nicht so gut laufe, könnten Eltern sich das aufschreiben: "In den Augen unserer Kinder vergessen wir sehr viel. Da ist das Aufschreiben ein schönes Signal: Ich nehme ernst, was du sagst, und ich werde es nicht vergessen."

Ausgeglichenheit durch Bewegung

Ein Grund für Frust könne auch ein Mangel an Bewegung sein. Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen mindestens 60 Minuten Bewegung am Tag für Fünf- bis 17-Jährige ergeben sich im Lockdown-Alltag nicht gerade von selbst. Hilfe liefert hier das Internet: Der Basketballverein Alba Berlin bietet nach wie vor auf YouTube "Albas tägliche Sportstunde" für verschiedene Altersgruppen. Zudem gibt es mit "Kitu" eine neue kostenlose App, die zum Turnen zu Hause animiert.

Frankenberger schlägt vor, Bewegung und "Zeit miteinander" zu kombinieren: gemeinsam joggen gehen, kindgerechtes Yoga, Bewegungsspiele an der frischen Luft.

Irgendwann ist "nach Corona"

Was letztlich alles leichter mache: Humor - und sich eines wieder und wieder bewusst machen: "Dass diese Krise enden wird", erinnert Frankenberger. Sie hofft allerdings, dass nicht alle Erkenntnisse aus dieser Zeit versanden werden: "Es ist ja nichts Neues, dass viele Kinder es schwer haben. Schulstress, Druck, Mobbing - um nur einige Stichpunkte zu nennen. Wir sollten generell genauer hinschauen, wie es unseren Kindern geht."

Auch das Thema Selbstfürsorge sei durch die Krise in den Medien präsenter geworden: "Das ist wichtig für die Harmonie in den Familien. Kinder müssen lernen: Mama und Papa brauchen auch ihre Zeit für Ruhe und Erholung und sind nicht dafür da, immerzu Programm zu machen." Von A bis Z durchgeplante Tage seien ein gewaltiger Stressfaktor in Familien: "Mehr Langsamkeit - das sollten wir uns für die Zeit nach Corona vornehmen."

Verwendete Quellen:

  • Interview mit der Paar- und Familientherapeutin Anette Frankenberger
  • WHO
  • "COVID KIDS", Universität Tübingen
Zur Person: Anette Frankenberger arbeitet seit 1994 in München als systemische Paar- und Familientherapeutin sowie Supervisorin in eigener Praxis. Seit 1989 ist sie als Dozentin in der Erwachsenenbildung und Erziehungsberatung tätig. Auf unserem Portal beantwortet sie regelmäßig Leserfragen zu Liebesangelegenheiten.
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