Die einen Kinder plappern, bis die Ohren schmerzen – andere im gleichen Alter bugsieren höchstens mit einem "Brrrrummm" den Raupenbagger durch den Sandkasten. Muss das Kind deswegen gleich gefördert werden? Wie erkenne ich, ob es sprachlich auf Hilfe angewiesen ist?

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"Mama, tomm tuck nell! Da Dada-Ado!" Aufgeregt steht der Dreijährige am Fenster. "Ja, ich komme!", ruft seine Mutter und stellt sich neben ihn. "Oh, ein Feuerwehr-Auto!"

Diese Entgegnung der Mutter ist in Logopäden-Sprache ein klassischer Fall von einem "corrective feedback": einer eher beiläufigen, korrekten Wiederholung des Gesagten.

"Diese Szene entspricht dem intuitiven Lernen von Eltern und Kind", sagt Kerstin Nonn, Leiterin der staatlichen Berufsfachschule für Logopädie am LMU Klinikum in München. "Kinder sprechen bis ein Jahr vor der Einschulung einfach drauf los, erst später können sie analysieren – zum Beispiel, aus welchen einzelnen Buchstaben ein Wort besteht oder wie viele Silben es hat."

Überkorrekte Verbesserung oder gar Üben durch Nachsprechen würde eher verschrecken. "Das Kind traut sich dann immer weniger, zu kommunizieren, und das wirkt sich natürlich negativ auf die Sprachentwicklung aus."

Vor dem Gang zum Logopäden: Ohren-Check

Die meisten Kinder entwickeln ihre Sprache schnell, leicht und mühelos. Rund zehn Prozent eines Jahrgangs aber haben eine sogenannte Sprachentwicklungsstörung (SES), also Probleme im Wortschatz, dem Sprachverständnis oder im Satzbau. Die SES erfordert eine intensivere logopädische Behandlung als beispielsweise eine Aussprachestörung wie Lispeln.

An einer SES tragen die Eltern keine Schuld. "Die Ursachen sind in den allermeisten Fällen genetisch bedingt", sagt Nonn. Eine organische Ursache der SES solle aber vor dem Gang zum Logopäden abgeklärt werden – nämlich eine mögliche Ansammlung von Flüssigkeit im Mittelohr, der sogenannte Paukenerguss.

Oft wird dieser erst spät entdeckt und die Eltern verzweifeln, weil ihr Kind keine sprachlichen Fortschritte macht. Dabei hängen Hören und Sprachentwicklung unmittelbar zusammen. "Um Lautsprache zu entwickeln, brauche ich ein intaktes Hörvermögen", erklärt die Expertin.

20 bis 30 Prozent der Säuglinge und Kleinkinder haben Nonn zufolge Paukenergüsse. Das Trommelfell kann dann seine Funktion nicht mehr erfüllen und schwingen, den Sprachschall nicht mehr ans Innenohr übertragen. "Besteht dieser Zustand länger als drei Monate auf beiden Ohren, kann das negative Auswirkungen auf die Sprachentwicklung haben", erläutert die Lehrlogopädin.

Die Meilensteine in der Sprachentwicklung und mögliche Anzeichen einer SES

Sind die Ohren aber in Ordnung und es besteht eine "echte" SES, ist es laut Nonn hilfreich, sich die verschiedenen Meilensteine der sprachlichen Entwicklung eines Kindes anzuschauen und sich vom Kinderarzt beraten zu lassen, wenn die typischen Merkmale in den Phasen deutlich abweichen:

  • bis zum sechsten Monat: das Baby reagiert normalerweise auf Geräusche und seinen Namen. Beraten lassen, wenn es keinen Blickkontakt (mehr) zu Ihnen aufnimmt und den Kopf nicht (mehr) zu den Klangquellen dreht.
  • ab dem zwölften Monat: erste Wörter entstehen. Beraten lassen, wenn keine "Lall-Ketten" ("Dada") verwendet werden oder das Kind nur mit Mimik und Gestik kommuniziert.
  • zweites Lebensjahr (Beginn der Sprachentwicklung): nach und nach erweitert das Kind seinen Wortschatz auf etwa 50 Wörter. Beraten lassen, wenn Sie das Gefühl haben, Ihr Kind versteht Sie nicht und kann sich selbst sprachlich kaum mitteilen.
  • drittes Lebensjahr (Jahr der Sprachentwicklung): regelrechte Wortschatz-"Explosion", etwa sieben neue Wörter kommen pro Tag hinzu, alles wird erfragt und hinterfragt. Beraten lassen, wenn das Kind von Fremden nicht verstanden wird und noch keine einfachen Sätze bilden kann.

Auch können neben den U-Untersuchungen beim Kinderarzt die Erzieherinnen und Erzieher im Kindergarten meist eine gute und hilfreiche Rückmeldung über das sprachliche Verhalten des Kindes geben.

Vergleichen mit anderen Kindern sollte man nur unter Vorbehalt, sagt Nonn. "Das Bauchgefühl der Eltern ist häufig gut und man kann auch beim Kinderarzt äußern, dass andere Kinder sprachlich weiter sind als das eigene. Aber grundsätzlich gilt: Der frühe Spracherwerb ist bei Kindern sehr unterschiedlich. Je jünger das Kind ist, desto schwieriger sind Einschätzungen durch Vergleiche."

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Angst vor der Förder-Falle: Wird mein Kind womöglich übertherapiert?

Ist beim Kinderarzt das Sprach-Problem erst einmal angesprochen, befürchten viele Eltern eine Übertherapie. HNO-Arzt, Logopäde, Phoniater oder gleich das Sozialpädiatrische Zentrum – die Liste der Fachleute ist lang.

Lehrlogopädin Nonn kann die Befürchtungen nehmen: "Die Experten haben einen sehr objektiven Blick und können im besten Fall auch eine Entwarnung aussprechen und die Eltern beruhigen." Grundsätzlich solle man immer beim Kinderarzt vorsprechen, wenn die Entwicklung des Kindes Sorgen bereite.

Auf der Homepage des Deutschen Bundesverbands für Logopädie (dbl) können Eltern neben vielen Informationen zur Sprachentwicklung auch Checklisten und Fragebögen zum Entwicklungsstand ihres Kindes herunterladen, die eine Vorbereitung für den Arztbesuch sein können.

Störung nicht behandeln: Fatale Folgen

Hält eine Sprachentwicklungsstörung länger über Jahre an, werden auch folgende Auswirkungen im Alltag wahrscheinlicher:

  • Ausgrenzung im Kindergarten, innerer Rückzug des Kindes
  • Risiko für psychische Folgen (Angststörungen und soziale Phobien)
  • Schwierigkeiten in Schule und Beruf (Lese-/Rechtschreibschwäche beziehungsweise -störung, geringerer beziehungsweise fehlender Bildungsabschluss, niedrigerer sozialer Status)
  • Absinken des allgemeinen Intelligenzquotienten

Verbessern verboten: Das können Eltern zur Sprachförderung tun

Egal, ob das Kind eine Sprachentwicklungsstörung hat oder "sprachgesund" ist – Empathie und Wertschätzung sollten Erwachsene im Gespräch mit Kindern zeigen. Für die Förderung der sprachlichen Fähigkeiten aller Kinder können Eltern auch versuchen, diese Tipps im Alltag umzusetzen:

  • das Kind während des Sprechens anschauen
  • aufmerksam zuhören, durch zum Beispiel Kopfnicken Interesse und Verständnis zeigen
  • ausreden lassen
  • nicht verbessern, während das Kind redet
  • corrective feedback, aber nicht überkorrekt ("zutexten")
  • nachfragen, wenn etwas nicht verstanden wurde
  • vorlesen, Bilderbücher anschauen, gemeinsam backen, singen, tanzen, gemeinsame Unternehmungen, Geschichten erzählen
  • Fernsehsendungen gemeinsam anschauen und darüber sprechen

Das Gute vorweg: Wir als Eltern machen schon ganz schön viel richtig in Sachen Früherkennung und Förderung. "Eltern haben die besondere Fähigkeit, sich genau auf das Niveau des Kindes zu begeben", so die Sprach-Expertin Nonn. Diese Fähigkeit ist in der Wissenschaft als "Motherese" bekannt. Ohne große Anstrengung machen wir exakt das, was unser Kind braucht. Auch in der Sprachförderung.

Nonn: "Wichtig ist, dass die Förderung im Alltag stattfindet und nicht in einer künstlich erzeugten Situation." Gemeinsam Kuchen backen ist also aus Experten-Sicht wertvoller für die kindliche Sprachentwicklung als ein Vortrag der Eltern über die korrekte Aussprache. Kinderarzt und Autor Remo Largo kommt in der Fachliteratur übrigens zu einem ähnlichen Ergebnis: "Die beste Sprachförderung ist eine gute Beziehung zum Kind."

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Dr. Kerstin Nonn, Leiterin der staatlichen Berufsfachschule für Logopädie am LMU Klinikum in München
  • Deutscher Bundesverband für Logopädie (dbl)
  • Largo, Remo H. (2010): Babyjahre. Die frühkindliche Entwicklung aus biologischer Sicht. Piper Verlag, München
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