"Wenn ich groß bin, werde ich wie Papa!" Kinder passen sich den Verhaltensweisen ihrer Eltern an, das ist ganz normal. Gefährlich wird es, wenn einer der Eltern narzisstisch veranlagt ist: Das Bild, wie das Kind zu sein hat, ist schon festgeschrieben. Die Folgen können fatal sein.

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Im Märchen "Schneewittchen" wünscht sich die Königin ein Kind, das so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz ist. Ihr Wunsch erfüllt sich auch.

"Aber wenn das Kind auf einmal grün-gelb-kariert auf die Welt kommt?" fragt die Psychologin Bärbel Wardetzki aus München. "Das Kind ist noch nicht gezeugt, aber das Bild, wie es zu sein hat, ist schon festgeschrieben."

Das Kind als Aushängeschild und Superheld

Dieses Beispiel zeigt auch, wie sich das Leben des Kindes fortan gestalten wird. "Das Kind ist clever. Um die Liebe seiner Eltern nicht zu verlieren, verhält es sich wie das weiß-rot-schwarze Kind und versteckt seine anderen Farben", erklärt Wardetzki.

Die Mutter, die ihr Kind als Aushängeschild sieht oder der Vater, der aus seinem Kind einen Superhelden macht, bekommen ihre Wünsche – scheinbar. In Wirklichkeit muss das Kind eine Rolle erfüllen, die seine Eltern vorgeben.

Ausbeutung durch die Eltern

Dass sich ein Kind seiner Umgebung anpasst, beispielsweise der Familie, ist zunächst ein normales Verhalten. "Wir haben alle gelernt, uns anzupassen, weil wir ja in der Familie bleiben wollen", so Wardetzki.

"Wenn ich aber meinen persönlichen Wert hintenanstellen muss, um die anderen Erwachsenen zu bedienen, wird es zu einem narzisstischen Thema." Das Kind lebt für die Anerkennung der Eltern - es ist nur wertvoll, wenn die Eltern glücklich sind.

"Das nennt man auch narzisstische Ausbeutung", erklärt Wardetzki. "Es geht nicht mehr um mich als Kind – und darum sollte es eigentlich gehen – sondern es geht um meine Bezugspersonen. Anstatt dass ich von ihnen genährt werde, muss ich sie nähren – und zwar mit der Rolle, die ich für sie spiele, um geliebt zu werden."

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Narzisstische Tendenzen beim Kind erkennen

Wächst ein Junge zum Beispiel mit seinem narzisstischen Vater auf, übernimmt er automatisch dessen Verhalten. "Kinder identifizieren sich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil", weiß die Therapeutin.

Da sich der narzisstische Vater nicht hinterfragt, fällt es meist dem Partner auf, dass das Kind vielleicht auch die narzisstischen Strukturen mit übernommen hat. Narzisstische Tendenzen können sich darin zeigen, dass das Kind ...

  • sich viel mehr in den Vordergrund spielt als andere
  • sich selbst auffällig viel lobt
  • permanent Lob braucht
  • kein soziales Verhalten zeigt

Narzisstischen Tendenzen beim Kind entgegenwirken

Damit sich das Kind gut entwickelt, braucht es eine einen verlässlichen Beziehungspartner. "Gutes elterliches Verhalten bedeutet nicht, perfekt zu sei"“, so die Expertin.

"Aber ich kann durchaus an ein paar Basics festhalten: Achtung, Empathie, Feinfühligkeit. Und dem Kind eine stabile Bindung anbieten, auch wenn es Konflikte gibt."

Traumata als Ursache

Neben den – bisher noch nicht ausreichend erforschten – genetischen Ursachen für narzisstische Strukturen spielen besonders durchlittene Traumata eine Rolle; nicht nur die psychischen, auch die körperlichen. Beispielsweise kann auch ein Sauerstoffmangel während der Geburt ein traumatisches Ereignis sein.

"Diese Traumata können sich sowohl verstärken als auch abschwächen", sagt Wardetzki. "Es kann sein, dass das Kind so starke innere Ressourcen-Kräfte hat, beispielsweise durch wunderbare Eltern oder Großeltern, dass es mit Konflikten ganz anders umgehen kann."

Das Kind spiegeln

Damit das Kind diese Kräfte erhält, sollten seine Beziehungspartner ...

  • dem Kind eine verlässliche Bindung anbieten
  • ihm Sicherheit vermitteln
  • sich in das Kind einfühlen

Wichtig sei es zudem, das Kind zu "spiegeln", also die Emotionen zurückzumelden, so Wardetzki. "Wenn das Kind traurig ist, sage ich 'Ach, jetzt bist du traurig' oder wenn es sich freut, 'Jetzt freuen wir uns miteinander' – so lernt das Kind, seine Emotionen selbst zu benennen und dass sie völlig in Ordnung sind."

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Selbstwertschädigung entsteht durch falsches Spiegeln

Das Kind darf nicht – wie es Menschen mit narzisstischen Strukturen tun – abgewertet, gedemütigt oder ausgelacht werden. "Wenn das Kind zum Beispiel weint und ich darüber lache, spiegele ich ihm nicht seine Trauer", sagt Psychologin Wardetzki. "Ich signalisiere ihm damit: 'Das ist doch totaler Quatsch, dass du weinst.' So entsteht eine Selbstwertschädigung beim Kind."

Hilft dem Kind eine Trennung vom narzisstischen Partner?

"Ich erlebe Frauen und Männer, die überlegen, sich vom narzisstischen Partner zu trennen, weil sie Angst haben, dass das Kind so wird wie er", erzählt Wardetzki. "Mit einer Trennung ist das aber nicht erledigt. Diese Kinder haben nun mal den Vater oder die Mutter mit der narzisstischen Persönlichkeit, das gehört zu ihrem Leben dazu."

Und weiter: "Sie müssen lernen, sich damit irgendwie zu arrangieren. Das, was ich als anderer Elternteil machen kann, ist, auf das Kind zu schauen und zu sagen: Bist du das Kind, was wir haben wollen oder bist du anders? Und wenn du anders bist, darfst du auch anders sein."

Zur Person: Dr. Bärbel Wardetzki arbeitet seit 1992 als Psychotherapeutin in ihrer eigenen Praxis in München. Zudem ist sie tätig als Supervisorin, im Coaching und hält Vorträge und Seminare im In- und Ausland. In vielen Büchern und auf ihrem YouTube-Kanal informiert Wardetzki über Themen ihrer psychotherapeutischen Arbeit wie Narzissmus, Essstörungen und Kränkungen.

Verwendete Quelle:

  • Interview mit Dr. Bärbel Wardetzki, Diplom-Psychologin, Psychotherapeutin, Supervisorin und Coach, München
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