Das Team des Marktforschungsinstitut Ipsos und das Opaschowski-Institut für Zukunftsforschung haben den Wohlstandsindex für Deutschland vorgestellt.

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"Es geht uns gut – zumindest vielen von uns", so das Ergebnis der Forscher. Wirklich? Politikwissenschaftler und Ex-Bundespräsidentschafts-Kandidat Christoph Butterwegge im Gespräch.

Herr Butterwegge, wofür steht Wohlstand heutzutage in unserer Gesellschaft?

Christoph Butterwegge: Ludwig Erhard hat in seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1957 "Wohlstand für alle" gefordert, den Begriff darin aber nicht definiert. Etymologisch gesehen besteht er aus den Komponenten "wohl", also dass man sich gut fühlt. Zudem steckt noch das Wort "Stand" drin, was aus dem Feudalismus stammt.

Wohlstand soll so von Dauer sein, denn einen Stand hat man ja auch unverrückbar qua Geburt. Man könnte sagen, heutzutage wäre das ein hoher Lebensstandard. Nach diesem und damit nach Wohlstand streben alle Gesellschaftsmitglieder.

Umfasst Wohlstand alle Lebensbereiche?

Ja, er betrifft in unserer Konsumgesellschaft natürlich hauptsächlich die materiellen Lebensbedingungen. Aber der Wohlstand sichert zudem, dass man am sozialen, politischen und kulturellen Leben teilnehmen kann und das auch tut. Wer also nur mit Geld jede Menge unsinnige Konsumgüter kauft, kann nicht dazu gehören.

Man muss sich also auch seriös verhalten, das ist die bürgerliche Komponente des Begriffs "Wohlstand". Eine Person aus der Unterschicht kann also nicht automatisch durch einen Lottogewinn wohlhabend werden.

Was unterscheidet das Empfinden von Wohlstand in Deutschland von dem in anderen Ländern?

Deutschland kennzeichnet in seiner politischen Kultur ein ausgeprägtes Sicherheitsstreben. Das rührt ursprünglich vom Dreißigjährigen Krieg her, als marodierende Banden das Land jahrzehntelang mit Gewalt überzogen haben.

Das deutsche Bürgertum hat in der Folge im Gegensatz zu anderen europäischen Nationen einen Pakt mit der Obrigkeit geschlossen: der Schutz des Fürsten durch bedingungsloses Gefolge.

Auch die beiden Weltkriege haben dieses Sicherheitsbedürfnis verstärkt. Die Bewohner anderer Länder haben teilweise eine höhere Risikobereitschaft. In Deutschland hingegen prägt Sicherheit das Wohlfühlen und damit auch den Wohlstand.

Wo liegt ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen Wohlstand und Reichtum?

Reichtum hat eher etwas mit Gier, Luxus und Überfluss zu tun. Armut ist gekennzeichnet von materiellen Entbehrungen, Reichtum das komplette Gegenteil, Überfluss eben. Dadurch fühlt sich Reichtum weniger bedroht an, Wohlstand hingegen ist zumindest teilweise prekärer.

Das nutzen dann rechtspopulistische Parteien, die diese Ängste mancher Angehöriger der Mittelschicht vor dem Rückgang des Wohlstands ansprechen. Wohlstand in der Mittelschicht bedeutet unsicheren Wohlstand. Daraus resultieren politische Labilität und Anfälligkeit für rechtspopulistische Parolen.

Wie beurteilen Sie die Aussagekraft eines solchen Wohlstandsindex?

Die subjektive Seite ist da meines Erachtens zufolge zu stark betont. Die Verfasser fragen die Menschen, wie sie sich selbst einordnen, und sprechen von einem "Wohlstandsdilemma": Viele haben viel und haben dennoch Abstiegsangst.

Ich halte wenig von Demoskopie, weil sie zur Demagogie neigt.

Wo liegen seine Schwächen?

Wenn ich die Leute frage, ob Sie wohlständig sind, dann sagen sie häufig: ja, natürlich. Wer würde schon zugeben, dass er arm oder von Armut bedroht ist? Selbst ein Hartz-IV-Bezieher würde das ungern zugeben.

Denn jeder kennt jemanden, dem es schlechter geht und möchte natürlich nicht zu den Untersten gehören. "Zukunftsforscher" wie Herr Opaschowski können so nicht die Realität einfangen, sondern oft nur gesellschaftlich erwünschte Antworten generieren. Gesellschaftlich erwünscht ist nämlich, dass man sich dazugehörig fühlt. Wissenschaftlich gesehen ist der Index fragwürdig.

Und inhaltlich?

Er verschleiert total, dass die Gesellschaft völlig auf Reichtum und Konsum fixiert ist. Deutschland ist tief zerklüftet in Arm und Reich. Man kann nicht sagen, dass die Menschen gesund sind oder wohlständig. Ja, das trifft für viele zu, aber bei Weitem nicht für alle.

Fast eine Million Rentner sind beispielsweise auf Minijobs angewiesen. Hingegen bekommen die BMW-Erben Susanne Klatten und Stefan Quandt für das vergangene Jahr eine Dividende von mehr als einer Milliarde Euro ausgeschüttet. Es ärgert mich, wenn pseudowissenschaftlich versucht wird, die oberflächliche und undifferenzierte Aussage der Kanzlerin, den Menschen in Deutschland gehe es so gut wie nie, zu stützen.

Der Wohlstandsindex besagt, Geld sei nicht alles. Klar, da kann jeder zustimmen. Aber ich würde hinzufügen, dass ohne Geld alles nichts ist. In unserer durchökonomisierten und -kommerzialisierten Gesellschaft braucht man für fast alles Geld. Wenn jemand keins hat, interessieren ihn auch Gesundheit und eine intakte Umwelt nicht.

Wie sollte der Index denn aussehen?

Viele Menschen sind verschuldet, gelten trotzdem statistisch nicht als arm und können kein sorgenfreies Leben im Wohlstand führen. Auch Obdachlose, Heimbewohner oder Strafgefangene werden in der Statistik nicht berücksichtigt.

Forscher müssen vorsichtig mit Behauptungen sein, weiten Teilen der Mittelschicht gehe es gut. Die Mittelschicht besteht aus Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen. Woran messe ich nun, ob es Menschen gut geht? Herr Opaschoswki fragt sie: Wie geht’s Ihnen? Sie antworten: gut, weil sie an die Nachkriegszeit oder an die katastrophale Lage der Bewohner anderer Länder denken.

Ich würde den individuellen Wohlstand am Reichtum unserer Gesellschaft messen. Dann geht’s vielen gar nicht so gut, weil sich der Reichtum in den Händen weniger Familien konzentriert.

Wie würde sich denn Wohlstand für mehr Leute erreichen lassen?

Wer den Reichtum nicht antastet, kann die Armut nicht wirksam bekämpfen. Ohne Umverteilung von oben nach unten geht es nicht, will man materielle Sicherheit für alle gewährleisten, was unmittelbar zum Wohlstand in einem so reichen Land wie dem unseren gehört.

Nach unten abgesichert zu sein und die Gestaltungsmacht über sein Leben zu haben, das gehört zum Wohlstand. Ludwig Erhard hat 1957 Wohlstand für alle versprochen. Heute verspricht die Kanzlerin nur noch Bildung für alle. Aber Bildung ist kein automatischer Schlüssel zum Wohlstand. Elf Prozent aller Niedriglohnbeschäftigten beispielsweise sind Akademiker.

Christoph Butterwegge ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Köln. 2016 nominierte ihn die Partei Die Linke als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten. Als Gegenkandidat von Frank-Walter Steinmeier kam er bei der Wahl am 12. Februar 2017 auf 128 von 1260 Stimmen der Bundesversammlung.
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