Ein toter Whistleblower, massive Sicherheitspannen, verschwundene Unterlagen und fehlende Videos: Bei einem der weltweit größten Flugzeughersteller Boeing kehrt keine Ruhe ein. Nachdem im Januar eine Kabinenwand für Aufsehen sorgte, die während des Flugs herausgerissen wurde, sorgen weitere Pannen für Schlagzeilen. Was ist bei Boeing los? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

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Der Skandal im Hause Boeing wird immer größer. Der US-Flugzeugbauer steht seit Langem wegen Sicherheitsproblemen in der Kritik, nun sorgt ein weiteres abgefallenes Rumpfteil für Schlagzeilen. Hinzu kommen fehlende Unterlagen, überschriebene Videos und ein toter Whistleblower. Der Aktienkurs des Unternehmens ist bereits abgestürzt.

Welche Probleme gibt es bei Boeing?

Boeing sorgt gerade mit jeder Menge Pannen für Aufruhr. Jüngste Meldung: Ein Boeing-Jet Typ 737-800 von United Airlines verlor auf dem Weg von San Francisco nach Oregon ein Rumpfteil. Das Fehlen des Teils, das sich auf der Unterseite der Maschine befand, wo Tragflügel und Rumpf aufeinandertreffen, wurde erst nach der Landung bemerkt. Sie verlief planmäßig und sicher, doch der Vorfall reiht sich in Boeings Pannenserie ein.

Denn erst im Januar stand der Konzern mit dem Beinahe-Unglück einer Boeing 737 MAX9 der Fluggesellschaft Alaska Airlines in der Öffentlichkeit. Dabei hatte ein Rumpfteil auf Höhe der Sitzreihe 26 dem Kabinendruck nicht standgehalten und war kurz nach dem Start herausgerissen worden. Die Maschine absolvierte erst ihren 154. Flug. Vier fehlende Befestigungsbolzen sollen laut der Unfallermittlungsbehörde NTSB die Ursache gewesen sein.

Die über 170 Passagiere kamen mit einem Schrecken davon – der Aktienkurs des Flugzeug-Giganten stürzte ab, das Unternehmen verlor 12 Milliarden US-Dollar an Marktwert. Das Bittere: Die Maschine hätte sich noch am selben Abend einer Sicherheitsüberprüfung wegen Problemen mit dem Kabinendrucksystem unterziehen sollen. Ingenieure und Techniker der Airline wollten die Maschine also aus dem Verkehr nehmen.

Was ist schon in der Vergangenheit passiert?

Die Sicherheitsprobleme bei Boeing sind insgesamt nicht neu. Boeing machte in der Vergangenheit immer wieder mit Produktionsproblemen, Pannen und Mängeln Schlagzeilen. Beobachter zeigen sich seit Jahren wegen der Produktionsqualität bei Boeing alarmiert. Angeheizt wurde die Diskussionen, nachdem 2018 und 2019 bei zwei Abstürzen fast 350 Menschen starben. Beide Maschinen waren vom Typ Boeing Max 737, betrieben von Lion Air und Ethiopian Airlines.

Nach den zwei Abstürzen wurde die 737 Max damals weltweit aus dem Verkehr gezogen – zahlreiche davon wird Boeing seitdem nicht mehr los. Chinesische Kunden weigern sich zum Beispiel seit dreieinhalb Jahren, bestellte Maschinen abzunehmen.

Die Pannen-Liste ist um einiges länger: Im März verlor eine Boeing 777 der Fluggesellschaft United Airlines beim Start in San Francisco ein Rad, ebenso gab es Berichte über technische Probleme an Bord einer Boeing 787-9 Dreamliner, die auf dem Weg nach Neuseeland war. Die Passagiere wurden durch die Kabine geschleudert, es gab 50 Verletzte. 2013 musste eine Boeing 787 wegen eines Batteriebrands in Japan notlanden, 2009 hatte ein defekter Funkhöhenmesser zu einem Absturz mit neun Toten und 86 Verletzten in Amsterdam geführt.

Welche Folgen haben die Vorfälle?

Nach dem Vorfall mit dem abgerissenen Kabinenteil wurden mehrere Ermittlungen eingeleitet, unter anderem vom US-Justizministerium. Die US-Luftfahrtbehörde FAA verhängte vorübergehend ein Startverbot für mehr als 170 Maschinen des Typs Boeing 737-9 Max. Erst nach mehrstündigen Inspektionen dürfen die Flugzeuge wieder in Betrieb gehen. Betroffen von der Maßnahme sind Jets, die von US-Airlines betrieben werden oder auf amerikanischem Staatsgebiet unterwegs sind.

Bei einer sechswöchigen Prüfung der Luftfahrtbehörde waren bereits eklatante Produktionsprobleme zu Tage getreten. Die 737 Max-Maschinen seien bei mehr als einem Drittel der Tests durchgefallen – darunter auch bei dem Test, bei dem es um die Türpfropfen des herausgerissenen Bauteils geht.

Warum weitet der Skandal sich aus?

Die Sicherheitsprobleme und Qualitätsmängel sind nicht die einzige Hiobsbotschaft. Auch der Umgang des Konzerns mit der Krise steht in der Kritik. Angeblich will das Unternehmen keine Unterlagen zu den Arbeiten an dem geborstenen Fragment haben. Eigentlich ist es im Flugzeugbau üblich, Arbeitsschritte detailliert zu dokumentieren.

Doch die Frage, wer im Boeing-Werk Renton an der Kabinenwand gearbeitet hat, bleibt offen. Auch Aufnahmen der Sicherheitskameras zum Zeitpunkt der Arbeiten im September sind laut Aussage des Konzerns überschrieben worden – ein automatischer Vorgang nach 30 Tagen. Außerdem hat Boeing eine Klage ihres früheren Qualitätsmanagers John Barnett am Hals.

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Welche Rolle spielt der tote Whistleblower?

John Barnett hatte mehr als 30 Jahre für Boeing gearbeitet, bis er 2017 das Unternehmen verließ. Schon während seiner Beschäftigungszeit hatte er immer wieder aus seiner Sicht mangelhafte Zustände in der Produktion beklagt und Informationen mit Journalisten geteilt. Nachdem er in den Ruhestand gegangen war, klagte der 62-Jährige gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber. Der Vorwurf: Boeing soll seine Karriere aufgrund der von ihm geäußerten Kritik beeinträchtigt haben.

Unter anderem hatte Barnett behauptet, Boeing-Arbeiter würden unter Druck absichtlich minderwertige Teile aus Schrottbehältern verbauen, um Verzögerungen am Fließband zu vermeiden. Das Unternehmen wies die Vorwürfe stets zurück. Noch während des laufenden Prozesses wurde der ehemalige Boeing-Manager tot aufgefunden – vermutlich habe er sich vor einem Hotel im Bundesstaat South Caroline selbst getötet, so die Aussage der Polizei.

Wie ist Boeing in die Krise gerutscht?

Branchen-Kennern zufolge ist Boeing unter anderem durch seine Profitgetriebenheit in die Krise gerutscht. So habe der Konzern, bei dem einst Qualitäts- und Ingenieursexzellenz im Vordergrund standen, zuletzt immer mehr auf Dividenden, Shareholder-Value, Effizienz und Sparpotenziale geblickt. Der Druck, neue Maschinen zu produzieren, soll zu gehetzten Montageprozessen geführt haben – zulasten der Sicherheit.

Nach einer Übernahme vor rund 25 Jahren durch den Flugzeughersteller McDonnell Douglas soll bei Boeing ein Kulturwechsel eingetreten sein: Der Konzern hatte beispielsweise fortan wichtige Arbeiten an fremde Unternehmen vergeben und unter anderem auch bei dem Training von Piloten gespart. Wie Pulitzer-Preisträger Dominic Gates berichtete, habe der neue Chef den Mitarbeitern erklärt, Boeing sei keine Familie, sondern ein Team – und ohne Profit seien Arbeitsplätze in Gefahr. Andere machen auch die Unerfahrenheit vieler Mitarbeiter verantwortlich, denn viele erfahrene, ältere Angestellte hatten den Konzern nach Corona verlassen.

Wie geht es nun weiter?

Wie der Konzern aus der Krisenstimmung herauskommen will, ist völlig offen. Zwar hat Chef Dave Calhoun bereits öffentlich zugegeben: "Wir müssen Fehler eingestehen", doch damit ist das Problem natürlich nicht gebannt. Jetzt wird es darum gehen, Vertrauen zurückzugewinnen. Die Europäische Luftfahrtbehörde könnte Boeing im schlimmsten Fall sogar die Zulassung entziehen. Auch hierzulande gibt es bereits Reisende, die versuchen, Boeing-Maschinen zu vermeiden – indem sie beispielsweise nur noch Flüge mit Airlines buchen, die auf Boeing-Flugzeuge verzichten. So fliegen zum Beispiel Eurowings und Easyjet nur mit Airbus-Maschinen.

Verwendete Quellen

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