Vor dem Landgericht Leipzig wird heute der Prozess gegen einen Sozialarbeiter fortgesetzt: Dem 42-Jährigen wird vorgeworfen, den Tod eines Kleinkindes und seiner drogensüchtigen Mutter durch Unterlassen fahrlässig verantwortet zu haben. Aber wie weit kann die Betreuung der Sozialarbeiter überhaupt gehen? Was darf das Jugendamt – und was nicht?

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Die Tragödie vor Gericht geht in die zweite Runde: Angeklagt ist ein 42-Jähriger, der im Auftrag des Jugendamtes eine Familie betreute. Nachdem die Frau allerdings erklärt hatte, nach Baden-Württemberg ziehen zu wollen, hatte der Sozialarbeiter zwei Monate lang keinen Kontakt mehr zu der Familie gehabt. Im Juni 2012 starb die 26 Jahre alte Mutter an einem Drogencocktail, ihr zwei Jahre alter Sohn verhungerte und verdurstete neben der Leiche.

Der Vorwurf: Der Staatsanwalt wirft dem Sozialarbeiter vor, nicht genügend Maßnahmen ergriffen zu haben, um das Leben des kleinen Jungen zu schützen. Auf Alarmzeichen, dass das Leben der 26-Jährigen zunehmend außer Kontrolle geriet, habe er nicht angemessen reagiert.

Die Verteidigung: Der Angeklagte streitet den Vorwurf ab, sagt, dass er weder bei der Mutter noch bei ihrem Sohn Hinweise gesehen habe, die das Drama ankündigten. Nach der Urteilsverkündung des Amtsgerichts Leipzig im Mai 2014, bei dem der Jugendamtsmitarbeiter zu einer Geldstrafe von 3.600 Euro verurteilt wurde, hatte er deshalb Berufung eingelegt. Das Verfahren wird nun neu aufgerollt.

Aber wann darf der Staat überhaupt eingreifen und überforderten Eltern ein Kind wegnehmen?

Grundsätzlich ist das Sorgerecht der Eltern ein natürliches Grundrecht und als solches in Artikel 6 des Grundgesetzbuches festgeschrieben. Konkret bedeutet es, dass allein die Eltern darüber entscheiden, wie die Erziehung ihres Kindes stattfindet, wo es lebt, ob es eine Kita besucht und wie oft es zum Kinderarzt geht.

Eingreifen darf der Staat nur unter ganz strengen Voraussetzungen. Matthias Bergmann ist Fachanwalt für Kindschaftsrecht in Hamburg. Er weiß: "In dieses Recht der Eltern kann und darf der Staat nur dann eingreifen, wenn das Verhalten der Eltern im Rahmen des Sorgerechts eine schwerwiegende, nachhaltige, fortgesetzte und gegenwärtige Gefahr für das psychische, physische oder seelische Wohl des Kindes bedeutet." So habe es das Bundesverfassungsgericht festgeschrieben.

Und das bedeutet: Erfährt das Kind zuhause Gewalt oder wird massiv vernachlässigt, dann hat das Jugendamt unter diesen konkreten Voraussetzungen die Möglichkeit, das Kind aus seinem familiären Umfeld in Obhut zu nehmen.

Wie viele Inobhutnahmen gibt es jährlich?

Die aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes dazu sind alarmierend: Im Jahr 2013 haben die Jugendämter insgesamt 42.123 Kinder aus ihrer Familie geholt. Das waren fünf Prozent mehr als im Vorjahr und sogar 64 Prozent mehr als 2005. Der häufigste Anlass für die Inobhutnahme war demnach die Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteils.

Auf welcher Grundlage ist eine Inobhutnahme möglich?

Damit der Schutzbefohlene in Obhut genommen werden darf, muss er sich entweder selbst beim Jugendamt melden oder die Mitarbeiter müssen durch Dritte, also Nachbarn, Verwandte oder sogar die Eltern selbst, darauf hingewiesen werden. Die Familie kann dann zunächst unter Beobachtung gestellt werden und bekommt regelmäßig Besuch von einem Mitarbeiter des Jugendamtes, der die Situation der Kinder beurteilt. Diese Hausbesuche können auch unangemeldet stattfinden. Sofern das Wohl der Kinder nicht wie oben beschrieben dringend gefährdet ist, muss für eine Inobhutnahme das Einverständnis der Betroffenen vorliegen.

Wann gilt das Wohl eines Kindes als gefährdet?

In diesem Punkt kommt es laut Anwalt Bergmann immer wieder zu einem großen Missverständnis: "Die Aufgabe des Jugendamtes ist es nicht, für die bestmögliche Erziehung der Kinder zu sorgen." Schließlich könne keiner definieren, was das Beste für ein Kind sei. "Die Jugendämter haben stattdessen eine Wächterrolle: Sie überwachen, dass die Versorgung der Kinder einem Mindeststandard genügen muss."

Was ist die Schwierigkeit bei solchen Entscheidungen?

Wie ernst die Gefahr für das Wohl des Kindes wirklich ist, ist mitunter schwierig zu beurteilen.

Viele Mitarbeiter entscheiden sich deshalb lieber für eine vorläufige Inobhutnahme – obwohl dies mitunter gar nicht rechtens ist. "Im Zweifel muss das Kind rechtlich bei den Eltern bleiben", erläutert Bergmann. Schließlich sei das emotionale Trauma, das Kinder durch die Trennung von ihrer Bezugsperson davontragen, nicht außer Acht zu lassen. Aber: "Natürlich läuft damit derjenige, der das entscheidet, Gefahr, dass er die Situation falsch einschätzt. Und dann ist das Kind im schlimmsten und wie in diesem Fall am Ende tot", so Bergmann.

Wie geht es in dem Fall nun weiter?

Zunächst einmal werden nun alle Zeugen befragt, die vom Gericht, der Staatsanwaltschaft oder der Verteidigung für relevant gehalten werden. Dazu dürften die Kollegen, Freunde und Nachbarn der Mutter zählen, ebenso wie der damalige Chef des Leipziger Jugendamtes, Kollegen des Sozialarbeiters und Polizisten, die zur Wohnung gerufen wurden. Bis es zu einem Urteilsspruch kommt, können Wochen oder sogar Monate vergehen.

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