Der Film "365 Days" wird seit Tagen mit am häufigsten auf Netflix gestreamt. Dabei ist der Softporno einfach nur schlecht an der Grenze zum Trash und vermittelt gefährliche Rollenbilder und verharmlost sexuelle Gewalt. Gründe, warum der Film trotzdem so häufig angeschaut wird, gibt es mehrere.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Christian Stüwe dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Ein Neandertaler schlägt einer Zeitgenossin eine Keule auf den Kopf und schleppt sie in seine Höhle. Die Römer rauben die Sabinerinnen. Paris entführt Helena und löst den Trojanischen Krieg aus.

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Diese Geschichten haben mehrere Gemeinsamkeiten. Zum einen werden Frauen mit Gewalt zu Partnerinnen gemacht, Liebe wird erzwungen. Zum anderen sind die Geschichten Jahrhunderte, sogar Jahrtausende alt.

Im Jahr 2020 erscheint so etwas nicht mehr zeitgemäß. Umso überraschender ist es, dass Netflix mit "365 Days" aktuell einen Film im Angebot hat, der genau so eine Geschichte erzählt. Und dass dieser seit Tagen in vielen Ländern zu den meistgestreamten Filmen gehört und in den sozialen Medien heiß diskutiert wird.

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Der Hype um den Film ist auch deshalb ziemlich überraschend, weil die knapp zwei Stunden ein absoluter Tiefpunkt im Angebot von Netflix sind. Eine vorhersehbare Handlung voller Klischees mit miesen Dialogen, ein schlimmer Soundtrack, ein Softporno an der Grenze zum Trash.

Warum ist "365 Days" bei Netflix so erfolgreich?

Warum also der große Erfolg und die ganze Aufregung? Gründe dafür gibt es mehrere, zuallererst ist natürlich die skandalträchtige Story des Filmes zu nennen, die ebenso für einen Hype wie für einen Shitstorm im Netz gesorgt hat.

Der junge Mafia-Boss Massimo Torricelli (Michele Morrone) wird angeschossen und sieht während einer Nahtoderfahrung das Gesicht von Laura Biel (Anna-Maria Sieklucka), die er zuvor durch ein Fernrohr beobachtet hat.

Massimo überlebt, die junge Frau geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Als Massimo Laura Jahre später in Italien wiedersieht, kidnappt er sie und sperrt die erfolgreiche, emanzipierte Geschäftsfrau aus Polen in seiner Villa ein. Er gewährt ihr 365 Tage, um sich in ihn zu verlieben.

Was sich für einen brutalen Entführer zunächst noch verhältnismäßig nett anhört, entpuppt sich schon bald als leeres Versprechen. Denn der Mafia-Boss wird übergriffig, packt sie hart an, würgt sie, hat vor ihren Augen Sex mit anderen Frauen und kettet sie ans Bett.

"Du kannst mir keinen Widerstand mehr leisten. Ich habe uneingeschränkten Zugriff auf deinen Körper", sagt Massimo und kündigt an, Laura "so hart zu f*****, dass man deine Schreie bis nach Warschau hört."

Ja, das sagt er wirklich. Das wirklich Skandalöse an diesem Dialog ist aber Lauras Antwort. "Bitte tu es", haucht sie. Die emanzipierte Hauptfigur, die sich zunächst noch zaghaft gewehrt und einige Fluchtversuche unternommen hatte, findet schnell, viel zu schnell, Gefallen an ihrem Entführer und verliebt sich in ihn.

Sexuelle Gewalt führt in "365 Days" zum Ziel

Schließlich lief es für Laura mit ihrem eigentlichen Freund ohnehin nicht gut. Warum sich also nicht für den sexy Mafiaboss entscheiden, der mit ihr Zeit auf seiner Yacht verbringt, ihr haufenweise Schuhe und Designerkleider kauft und sie mit auf schicke Partys nimmt? So einfach ist das in der Welt von "365 Days".

Eine Frauenrolle so anzulegen, wirkt im Zeitalter von #MeToo völlig anachronistisch und auch ziemlich gefährlich. Schließlich sendet der Film die Botschaft, dass ein Mann sich mit Gewalt nehmen kann, was er will und dafür noch belohnt wird. Sexuelle Gewalt und Missbrauch werden zwischen Champagner, luxuriösen Partys und Designerläden verharmlost.

Gerade deswegen ist es ziemlich überraschend, dass sich in den sozialen Medien viele junge Frauen in die Richtung äußern, dass sie nichts dagegen hätten, sich von einem wie Mafiaboss Massimo entführen zu lassen.

Und das ist ein weiteres Problem des Films. Der Schurke, der fiese Entführer, der brutale Mafiaboss wird nicht moralisch verurteilt, sondern als eigentlicher, gutaussehender Held inszeniert, der weiß, was er will.

Hauptdarsteller Michele Morrone ist Model, Sänger und hat einen perfekt trainierten Körper. Sein Song "Feel It", der auch im Film zu hören ist, wurde bei YouTube mehr als 18 Millionen Mal angeklickt. Anna-Maria Siechlucka ist genauso attraktiv, was natürlich ebenfalls zum Erfolg des Filmes beiträgt. Seit "365 Days" bei Netflix abrufbar ist, schnellten die Follower-Zahlen der Instagram-Accounts der beiden massiv in die Höhe.

Im Netz wird spekuliert, ob die expliziten Sexszenen des Filmpaares vielleicht sogar echt sein könnten. Auch dies ist typisch für Skandalfilme, beim "Letzten Tango von Paris" im Jahre 1972 war das nicht anders als bei "Wilde Orchidee" 1989.

Sehnen sich manche Zuschauer nach alten Rollenbildern?

Und vielleicht ist die Faszination für den Film bei manchen Zuschauerinnen und Zuschauern auch der Sehnsucht nach einer Welt von Gestern geschuldet, in der die Rollen zwischen Mann und Frau klar bestimmt sind und der Mann sagt, wo es lang geht.

Dass der Film und die Buchvorlage von Blanka Lipinska aus Polen kommen, einem Land, das als erzkatholisch gilt und sich politisch in den letzten Jahren in eine rechts-konservative Richtung entwickelt hat, ist sicherlich kein Zufall.

Letztlich funktioniert der Film auf Netflix aber vor allem deshalb so gut, weil er gerade im Moment ein so großes Gesprächsthema ist. Manche himmeln die Hauptdarsteller an, andere regen sich über die skandalträchtige Handlung auf. Letztlich wollen vor allem alle mitreden. Wenn die Aufregung um "365 Days" erstmal abgeklungen ist, wird der Film ziemlich schnell vergessen sein. Nichts anderes hat er auch verdient.

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