Seit Jahren nutzt Aljosha Muttardi seine Reichweite in den sozialen Medien, um sich für Veganismus, die LGBTQIA+-Community sowie körperliche und mentale Gesundheit einzusetzen. Mit seinem ersten eigenen Podcast "Out & About" taucht der Queer-Aktivist nun in Coming-out-Geschichten verschiedener Realitäten und der Menschen dahinter ein. Im Interview mit unserer Redaktion erklärt der 35-Jährige die Bedeutung von Sichtbarkeit und welche Rolle die sozialen Medien in diesem Zusammenhang spielen.

Ein Interview

Herr Muttardi, beschreiben Sie bitte Ihren neuen Podcast "Out & About" mit drei Worten!
Aljosha Muttardi: Wichtig, gefühlvoll und wohlfühlig.

In dem Podcast geht es um Fragen, inwiefern es heutzutage überhaupt noch ein Coming-out braucht. Konnten Sie eine Antwort darauf finden?
Der Frage "Braucht es heute noch ein Coming-out?" gehen wir in dem Podcast zwar auf den Grund, aber für mich persönlich ist es keine Frage, die einer Antwort bedarf. Für mich ist es klar, dass es das noch braucht. Denn solange queere Menschen weltweit nicht dieselben Rechte haben, solange sie Angst haben müssen, bespuckt zu werden, solange trans Menschen Angst haben müssen, umgebracht oder gemobbt zu werden, solange lesbische Frauen sexualisiert werden, solange Blutspenden nicht überall legal sind, solange Adoption von Kindern nicht überall legal ist, braucht es Coming-out-Geschichten.

Auf was für Geschichten dürfen sich die Hörerinnen und Hörer des Podcasts freuen?
Der Podcast ist ein buntes Potpourri verschiedener Lebensrealitäten. Wir haben versucht, genau diesen Aspekt so breit wie möglich darzustellen, wissen aber auch, dass wir noch nicht allen Lebensrealitäten eine Bühne geben konnten. In einer Folge geht es beispielsweise um eine 71 Jahre alte lesbische Frau, die mit mir über eine Zeit spricht, in der es mich noch gar nicht gab. Das war für mich total faszinierend und ist immer mit einer gewissen Demut und Dankbarkeit verbunden. Wir sprechen in den weiteren Episoden auch mit nicht-binären Personen, trans Menschen oder mit queeren Elternteilen. Es gibt auch Folgen, die unerwarteterweise ganz schön reingehauen haben. In einer Folge spreche ich zum Beispiel mit einem mir sehr nahe stehenden Menschen über Sex- und Drogensucht sowie Suizidgedanken und Rassismuserfahrungen. Es sind also teilweise sehr heftige Gespräche – dennoch gibt es immer diesen kleinen positiven Spin, dass am Ende all das überwunden werden konnte. Insofern sind manche Folgen sehr leicht, andere sind etwas tiefer, während man bei anderen mehr lacht. Ich glaube, es ist eine sehr schöne Produktion geworden.

Wie war das bisherige Feedback auf den Podcast?
Es war total gut und ich habe wirklich sehr viele schöne und rührende Nachrichten erhalten. Das Feedback kam sowohl von queeren Menschen, die geschrieben haben, dass sie sich selbst in einigen Äußerungen wiedererkannt haben und ihnen somit ein Zugehörigkeitsgefühl gegeben wurde. Es haben sich aber auch nicht-queere Menschen gemeldet und sich für die neue Perspektive bedankt, die ihnen gegeben wurde. Genau diese Reaktionen hatte ich mir gewünscht und ich bin sehr dankbar.

Der Podcast spricht Themen an, die in unserer Gesellschaft häufig noch immer tabuisiert werden. Wie können Stigmatisierungen von Sexualitäten und Persönlichkeiten endlich gebrochen werden?
Ich glaube, der effektivste Weg ist, Menschen zu informieren und Sichtbarkeit zu schaffen. Wenn Menschen in Kontakt mit queeren Personen kommen, von denen sie bisher nur ein Bild erhalten haben, das von Klischees gezeichnet wurde, beruht die Tabuisierung auf fehlender Berührung. In erster Linie helfen hier Filme, Serien, Bücher oder auch Podcasts, um Sichtbarkeit zu schaffen. Sichtbarkeit schafft eine neue Normalität und Normalität ist das, was wir uns wünschen.

Eines der größten Probleme ist fehlende Kommunikation zwischen den Generationen

Im Podcast werden etwa Begriffe wie queer oder nicht-binär erklärt, um allen Zuhörenden gleichermaßen eine vermeintlich andere Welt zugänglich und sichtbar zu machen. Inwiefern lassen sich die Menschen darauf ein?
Das ist sehr individuell und hängt immer davon ab, wen man anspricht. Prinzipiell glaube ich aber schon, dass es etwas einfacher wird, Menschen zu erreichen. Das liegt vor allem daran, dass wir durch Social Media schon mehr Sichtbarkeit schaffen konnten. Diese Sichtbarkeit beginnt damit, bei Menschen dafür zu sorgen, dass gewisse Dinge ihnen nicht mehr so schlimm erscheinen. Eines der größten Probleme, das wir haben, ist fehlende Kommunikation zwischen den Generationen.
Je mehr die Menschen aus ihrer eigenen Komfortzone treten müssen, umso mehr Widerstand kommt auf. Einen queeren Menschen auf der Straße nicht zu attackieren, bedeutet für die meisten Menschen logischerweise keine Einschränkung in ihrem Handeln. Geht es aber im Vergleich darum, im Alltag zu gendern oder Menschen mit ihrem korrekten Pronomen anzusprechen, wird die Einschränkung größer und sie erkennen eine Umstellung mit Blick auf ihren persönlichen Komfort und sie erkennen eine gewisse Herausforderung.

Wie äußert sich diese Challenge, in der sich die Menschen dann befinden?
Typische Reaktionen sind dann etwa Äußerungen wie "Das geht mir zu weit" oder "Ich will das nicht" – hier geht es dann darum, klarzumachen, worum es geht und den Menschen ihre Privilegien zu verdeutlichen. Denn es geht hierbei um Menschenleben. Wichtig ist hierbei, deutlich zu machen, dass es bei dieser Konfrontation nicht darum geht, die Menschen in ihrem Ego anzugreifen, sondern vielmehr das Wertesystem, in dem wir alle aufgewachsen sind, zu hinterfragen. Wir müssen lernen, strukturelle Probleme von individueller Kritik zu trennen.

Ist die Herausforderung sich zu outen heute eine andere als früher?
Global betrachtet gibt es natürlich immer noch viele Orte auf der Welt, in denen Homosexualität mit der Todesstrafe geahndet wird. Mit Blick auf solche Orte ist es mir wichtig, dieses Thema global zu betrachten. Mit Blick auf den deutschsprachigen Raum würde ich sagen, dass eine Verbesserung stattgefunden hat. Das liegt natürlich an Social Media und daran, dass wir hier eindeutig mehr Sichtbarkeit und Aufklärung haben und es hier mehr sichere Räume für Menschen gibt – sowohl online als auch offline. Außerdem können sich mehr Menschen untereinander vernetzen. Trotzdem gibt es auch hier noch immer viele Orte, in denen Menschen Angst davor haben, sich zu outen. Die Angriffsrate auf queere Menschen und vor allem auf trans Menschen ist im letzten Jahr gestiegen und vor allem von rechts findet derzeit eine enorme Gegenbewegung gegen trans Menschen statt, die nicht unterschätzt werden darf. Umso wichtiger ist es, dagegenzuhalten, aufzuklären und richtige Informationen zu verbreiten.

In Sachen Empowerment spielt Social Media eine wichtige Rolle …
Absolut. Meiner Meinung nach überwiegen hier die positiven Effekte. Man darf aber nicht vergessen, dass beispielsweise nicht-binäre oder trans Menschen nicht plötzlich aus dem Boden gesprossen sind. Sie waren immer da, trauen sich aber jetzt erst vermehrt, über sich zu sprechen. Häufig wird gesagt, all das sei nur ein Trend – verletzender kann etwas kaum formuliert werden. Insofern hat sich auch mit Blick auf Social Media in den letzten Jahren viel getan und es konnte viel Aufklärung stattfinden. Auch dass man über diese Netzwerke Menschen finden kann, mit denen man sich online wie offline verbunden fühlt, ist mehr geworden und somit ein wichtiger und positiver Effekt.

Es reicht nicht, ein Pride-Flaggen-Emoji in die eigene Instagram-Bio zu setzen

Es gibt aber auch die Schattenseiten …
Richtig. Instagram und TikTok zeigen uns in Form von gefilmten Übergriffen auf queere oder trans Menschen eine noch immer herrschende Realität. Ich muss in diesem Zusammenhang häufig an die "Black Lives Matter"-Bewegung nach dem Tod von George Floyd denken. Will Smith sagte damals: "Rassismus ist nicht schlimmer geworden, er wird jetzt nur gefilmt". So ist es auch mit Queerfeindlichkeit. Sie ist nicht schlimmer geworden, sie wird jetzt aber gefilmt. Das macht die Gewalt nicht weniger schlimm, aber es gibt uns die Möglichkeit, diese Gewalt sichtbarer zu machen und Menschen in Zugzwang zu bringen. Es muss gehandelt werden – es reicht nicht, ein Pride-Flaggen-Emoji in die eigene Instagram-Bio zu setzen.

Sie waren schon häufiger in Podcasts zu Gast und wurden für verschiedene Formate interviewt. Wie ist es, vom Interviewten zum Interviewenden zu werden?
Ganz ungewohnt. (lacht) Ehrlicherweise hatte ich anfangs etwas Panik, ob ich all das auch hinbekomme. Mein persönlicher Weg war dann, den Druck aus der Sache zu nehmen und mich daran zu erinnern, dass ich in den Gesprächen etwas über die Person lernen möchte, die mit mir redet. Zudem wusste ich, dass uns, unabhängig vom Gesprächsverlauf, etwas verbindet. Das hat mir geholfen. Mir war es außerdem wichtig, dass sich die Personen bei und mit mir wohlfühlen. Aller Umstellung zum Trotz hat mir die Produktion viel Spaß gemacht.

Papst Franziskus: "Homosexualität ist kein Verbrechen"

Papst Franziskus hält Gesetze, die Homosexualität unter Strafe stellen, für ungerecht. Gott liebe all seine Kinder so, wie sie seien. (Foto: Imago)

Bei Instagram folgen Ihnen knapp 130.000 Menschen. Wie gehen Sie mit Hass, Spott und Häme im Netz um?
Ich habe unterschiedliche Methoden, mit Übergriffen im Netz umzugehen: Manchmal ignoriere ich sie, manchmal blockiere ich die betreffenden Accounts, manchmal würde ich am liebsten in mein Kissen hineinschreien oder tausche mich mit Freund:innen aus. Plumpe Beleidigungen treffen mich in der Regel nicht so sehr, umso mehr geht es mir aber darum, ein Bewusstsein zu schaffen, dass Hass im Netz unterbunden wird.

Cyber-Mobbing: Man spielt hier tatsächlich mit Menschenleben

Was raten Sie Betroffenen von Cyber-Mobbing?
Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Beleidigungen und Übergriffe sollten angezeigt werden. Ich arbeite hier mit Portalen wie etwa "HateAid" zusammen. Cyber-Mobbing ist ein Riesenproblem, da die Anonymität den Menschen ein Gefühl von Macht gibt. Ich weiß, dass viele Menschen davon betroffen sind und es sie auch persönlich sehr trifft. Das Problem ist, dass häufig verkannt wird, dass hinter den Profilen auf Social Media echte Menschen stecken und wir nie wissen, was bei ihnen gerade passiert im Leben. Wir wissen nicht, ob diese Menschen womöglich gerade eine private Krise haben, in einer depressiven Phase sind, ob sie um einen Menschen trauern oder eine schlimme Diagnose erhalten haben. Worte haben Macht und ich habe den Eindruck, dass manche Menschen oft nicht verstehen, was Worte für einen Effekt erbringen können und wie gefährlich das werden kann. Man spielt hier tatsächlich mit Menschenleben. Insofern gehe ich so weit zu sagen, dass Sichtbarkeit Leben retten kann.

Sie sind neben Social Media durch "Queer Eye Germany" bekannt geworden – eines haben alle Formate gemeinsam: Sie schaffen Sichtbarkeit. Was genau kann Sichtbarkeit bewirken?
Wir alle haben Grundbedürfnisse und wollen gesehen, geliebt und verstanden werden. Sichtbarkeit führt dazu, dass nicht betroffene Menschen ein Verständnis davon bekommen, wie es sein kann, queer zu sein oder sich zu outen. Dabei geht es sowohl darum zu zeigen, wie schlimm Lebensrealitäten marginalisierter Menschen sein können als auch Wege zu zeigen, wie beispielsweise Eltern mit einem Coming-out umgehen können. Sichtbarkeit kann aber auch queeren Menschen zeigen, dass sie nicht alleine sind. Betroffene Menschen denken häufig, sie seien der Fehler im System. Dabei ist das System der Fehler und dieses System wird kontrolliert von einer Mehrheit, die häufig wegguckt. Um darauf aufmerksam zu machen, brauchen wir Sichtbarkeit.

Zur Person: Aljosha Muttardi ist ein queerer veganer Arzt, "Sinnfluencer", Aktivist und einer der Fab5 bei Queer Eye Germany auf Netflix. Bekannt geworden ist er vor allem durch den YouTube-Kanal "Vegan ist ungesund" von 2016 – 2021, der mit über 200.000 Follower:innen einen der größten veganen YouTube-Kanäle im deutschsprachigen Raum darstellte.

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