Wenn man ganz unten ist, wenn einem Schreckliches widerfahren ist und die ganze Welt gegen einen zu sein scheint – dann hilft es manchmal schon, wenn jemand einem glaubt. Das muss kein Superheld sein, nur ein Mensch, der zuhört, Verständnis zeigt, vielleicht sogar Mitgefühl. In diesem "Tatort" ist es Klaus Borowski (Axel Milberg).

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Der Kommissar sitzt einfach nur am Telefon und hört zu. Allerdings fühlt er sich deshalb schon ein bisschen als Superheld – und das wird zum Problem werden in diesem außergewöhnlichen Krimi, der vor allem an Borowskis Krankenbett spielt, und in dem ständig Sendemasten zu sehen sind. Und der trotzdem wieder ein starker, spannender Kieler "Tatort" ist.

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Denn die große Wut, um die es in "Borowski und die große Wut" geht, ist die von Celina (Caroline Cousin). Celina ist gerade mal volljährig, aber in ihrem jungen Leben scheint schon so viel kaputtgegangen zu sein, dass es eigentlich kein Wunder ist, wenn sie um sich schlägt.

Ihr wird vorgeworfen, eine Fahrradfahrerin vor einen Lkw geschubst zu haben. Ihre Großmutter totgeschlagen, Klaus Borowski mit dem Fleischhammer eins über den Schädel gezogen und schließlich ihre kleine Schwester Finja entführt zu haben. In Celina steckt so viel Wut, von der dieser "Tatort" erzählen muss, dass ein geschwächter Kommissar und regelmäßige Aufnahmen von Funkmasten in lieblicher schleswig-holsteinischer Landschaft ein geradezu notwendiger Ausgleich sind.

Der Fleischhammer ist der Grund, warum Borowski schwer verletzt im Krankenhaus liegt. Aber wie es dazu kam, erfahren die Zuschauenden nur aus Erzählungen. Die herkömmliche Ermittlungsarbeit fand dieses Mal ohne uns statt. Wir wissen nur, dass Zeugenaussagen am Unfallort der Fahrradfahrerin dazu geführt haben, dass Borowski am Haus der Großmutter klingelt, bei der Celina wohnt. Und dass ihn ein Krankenhausmitarbeiter (Roger Bonjour) später bewusstlos auf dem Parkplatz findet.

"Die große Wut" setzt dort ein, wo es psychologisch spannend wird

Borowski bekommt, gerade wieder erwacht, den Anruf eines kleinen Mädchens – er hat keine Ahnung, warum, und wer das ist. Mila Sahin (Almila Bagriacik), die zum Tod der Fahrradfahrerin ermittelt, erfährt derweil, dass nicht nur Celina verschwunden ist, sondern auch ihre kleine Schwester Finja. Während sie sich mit der psychisch labilen Mutter (Alexandra Finder) und dem schwächlichen Stiefvater (Jean-Luc Bubert) der beiden herumschlagen muss, bekommt Borowski weitere Anrufe – diesmal von Celina. Und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Unter anderem im Heizungskeller und im Blumenladen des Krankenhauses ...

Erst machen die unzusammenhängenden Szenen aus Borowski Erinnerungen keinen Sinn. Doch die Kopfverletzung hat eine Hypersensibilisierung seiner Sinne zur Folge, und so führen Farben und Gerüche ihn allmählich in die Tiefen seines Gedächtnisses, heran an das Geschehen im Haus der Großmutter. In den Abgrund einer Familie?

Es ist geradezu brillant, wie das "Tatort"-erprobte Autorenpaar Eva und Volker A. Zahn alle Zutaten eines vielschichtigen psychologischen Thrillers nutzt, um nicht nur das Fernsehpublikum auf falsche Fährten zu locken, sondern auch die Ermittelnden von ungewöhnlichen Seiten zu zeigen und ihre Gewissheiten und Gewohnheiten durcheinander zu rütteln.

Kommissar Borowski ist durch sein Schädeltrauma zwar krankgeschrieben und muss Kollegin Sahin die Ermittlungen führen lassen, was ihm gar nicht passt. Andererseits macht ihn seine Schwäche zu einem besonders verständnisvollen Zuhörer. Er ist es, den Celina anruft: Er ist für die Ermittlungen also unverzichtbar. Was dem Herrn Hauptkommissar wiederum ausgezeichnet gefällt und den Heilprozess bestimmt mindestens so sehr fördert wie Medikamente.

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Spannender Ablauf durch gekonnte Bildsprache

Regisseurin Friederike Jehn hat, unterstützt von Sten Mendes Kamera, die richtige Bildsprache für diesen "Tatort" gefunden, der seine Geschichte indirekt erzählt, und kann dabei auch auf ein überzeugendes Ensemble bauen. Caroline Cousin muss als Celina gar nicht ständig ausrasten, ihre Aggressionen vermitteln sich über ihre Stimme am Telefon, über das genervte Auflegen, über den trotzigen Blick in den Kurzvideos, die sie Borowski schickt. Aber sie ist selten zu sehen: Der Film nähert sich ihr über das Telefon, über Erzählungen der überforderten Mutter, über Akten des Jugendamtes.

Und in Axel Milbergs Gesicht spiegelt sich eine ganze Spurensuche: Der Widerwille gegen bestimmte Gerüche zum Beispiel, oder die Sorge um Celina, die niemanden zu haben scheint, nur ihn. Und auch der Triumph, wenn er dem Ermittlerteam dank seiner Gespräche entscheidende Hinweise geben kann – ausgerechnet er, der kaltgestellte Kommissar, im Morgenmantel, aus dem Krankenhaus heraus!

Borowski glaubt an Celinas Unschuld und kann tatsächlich mit weiteren Verdächtigen aufwarten, an deren Ferse sich Mila Sahins Team hängt. Da wird er vermessen und bringt nicht nur die Ermittlungen in Gefahr. Ein hypersensibilisierter Klaus Borowski ist noch lange kein Superman. Auch ein Klaus Borowski macht mal Fehler. Aber die wahren Helden sind natürlich die, die ihre Fehler zugeben können. Daran erinnert dieser sehenswerte "Tatort", nicht zuletzt mit seinem überraschenden Ende.

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