Im "Tatort: Borowski und der Fluch der weißen Möwe" tötet die traumatisierte Polizeischülerin Nasrin mitten im Unterricht einen Freund. Wie kann es zu so einer Überreaktion kommen? Und warum rappt Almila Bagriacik (Kommissarin Sahin) im Titelsong mit? Fünf Fragen zum Kieler "Tatort".

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Wieso reagiert Nasrin so stark auf die nur gespielte Bedrohung ihres Mitschülers?

Nasrin ist durch ein Ereignis in ihrer Vergangenheit schwer traumatisiert. Die Autoren Eva und Volker A. Zahn ließen sich beim Verfassen des Drehbuchs von der Trauma-Therapeutin Sibylle Jatzko beraten, die ein traumatisches Erlebnis als "eine seelische Verletzung" beschreibt.

Zu den häufigsten Reaktionen auf ein Trauma gehört ein bleibendes Gefühl der Gefahr, das durch unterschiedliche Reize ausgelöst werden kann. Diese können eindeutige Verbindungen zum Trauma haben (etwa bei der Rückkehr an den Ort des Geschehens). Das Gefühl der Angst kann aber auch durch Reize ausgelöst werden, die auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, etwa das Aufblitzen einer Farbe, eine Temperaturveränderung oder aber, wie im "Tatort", das Hören bestimmter Wörter.

Was ist dissoziative Amnesie, an der Nasrin zu leiden scheint?

Nach dem Mord kann sich Nasrin an nichts erinnern. Um die Täterin besser verstehen zu können, liest Kommissarin Sahin im "Tatort" ein Buch mit dem Titel "Dissoziative Amnesie".

Darunter versteht man eine Gedächtnisstörung. Auf lebensbedrohliche Situationen reagiert der Körper mit unterschiedlichen Strategien. Wenn weder Flucht noch Kampf möglich sind, Körper und Seele sich der Situation also nicht entziehen können, reagiert der menschliche Organismus mit Erstarren (ähnlich dem Totstellreflex bei Tieren) und Dissoziation.

Der Bremer Verein "Vielfalt", der traumatisierte Menschen unterstützt, definiert sie als "die Fähigkeit, etwas aus dem Alltagsbewusstsein abzuspalten". Im Extremfall kann es zu einer gespaltenen Persönlichkeit kommen. Die oft auch Blackouts genannte dissoziative Amnesie ist laut der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie eine Schutzreaktion eines überforderten Gehirns, das die Erinnerung auslöscht und "die Psyche vor einer neuerlichen Konfrontation mit den belastenden Erlebnissen bewahrt".

Müsste eine traumatisierte Täterin wie Nasrin nach ihrer Verhaftung nicht anders behandelt werden?

Die Drehbuchautoren Eva und Volker A. Zahn erfuhren bei der Recherche zu ihrer Überraschung, "dass es nach der Tat keinerlei psychologische Hilfe oder Betreuung selbst für offensichtlich schwer erkrankte Täter wie Nasrin gibt. Die Ermittlungen nehmen ihren gewohnten Gang. Therapeuten werden in die Vernehmungen nicht eingebunden. Erst wenn der Prozess anläuft, kommt es zu einer medizinischen Begutachtung."

Von wem stammt der Rapsong, mit dem dieser "Tatort" beginnt?

Der Berliner Musiker Stefan Hegli alias Sero hat für "Borowski und der Fluch der weißen Möwe" den Titelsong "Fliegen" geschrieben und produziert. Im Film gibt er außerdem sein Debüt als Schauspieler, er ist der Darsteller des weißblonden Leroy Schüttler aus Nasrins Clique.

Die Zusammenarbeit vermittelt hat Almila Bagriacik (Kommissarin Sahin), als für die Rolle des Leroy ein Rapper gesucht wurde, der auch schauspielern kann. Seine Erfahrung mit und vor der Kamera, die er durch seine Musikvideos gesammelt habe, habe ihm geholfen, so Sero. Er und Almila Bagriacik kennen sich seit ihrer Schulzeit in Berlin und singen "Fliegen" gemeinsam.

"Das Spannende an dem Song ist", erzählt die Schauspielerin, die in Ankara auf die Welt kam und in Berlin aufwuchs, "dass er sich inhaltlich in den Kontext des Films einfügt, aber gleichzeitig unsere persönliche Geschichte erzählt". Das Lied erzähle davon, sich im Leben gegen alle Widrigkeiten nach oben zu kämpfen, Rückschläge zu überwinden und immer weiterzufliegen, anstatt zu fallen.

Sero ist Stefan Heglis Spitzname aus seiner Jugend, so der Deutschrapper: "Wir Jungs mochten nicht, woher wir kamen. Wir mochten nicht, unter welchen Umständen wir aufwuchsen. Und wir mochten nicht die Identitäten, die uns zugeschrieben wurden. Deshalb haben wir uns unsere eigenen Namen gegeben."

Wer ist der Regisseur?

Hüseyin Tabak, geboren 1981, ist deutsch-kurdischer Abstammung und wuchs in Bad Salzuflen auf. Nachdem ihn alle deutschen Filmhochschulen abgelehnt hatten, wurde er an der Filmakademie Wien angenommen und studierte Regie unter Michael Haneke ("Funny Games", "Das weiße Band").

"Der Fluch der weißen Möwe" ist sein "Tatort"-Debüt und seine erste Arbeit überhaupt fürs Fernsehen. Mit der Kinodokumentation "Die Legende vom hässlichen König" über sein Vorbild, den türkisch-kurdischen Regisseur Yilmaz Güney, wurde er 2017 auf das Filmfestival Toronto eingeladen und bekam auf den Hofer Filmtagen den Preis für den besten Dokumentarfilm.

Trotzdem stieß der Film auf wenig Resonanz. Sein 2019 vom NDR koproduzierter Kinofilm "Gipsy Queen" über eine allein erziehende Roma, die Boxerin wird, sei sein letzter künstlerischer Versuch gewesen, erzählte Tabak der Fachzeitschrift "Blickpunkt Film". Er habe etliche Absagen von Festivals bekommen und es schien, als würde er kein weiteres Projekt mehr kriegen.

"Zum Glück fand die NDR-Redaktion den Film super. So kam ich zu meinem ersten 'Tatort'. Der hat mich nicht nur emotional gerettet." Dass sowohl Hauptfigur Nasrin als auch Kommissarin Sahin boxen, liegt dem Regisseur: "Es gefällt mir, wenn Filmfiguren eine große körperliche Präsenz zeigen, sich viel bewegen und nicht nur am Schreibtisch sitzen. Dadurch bin ich als Regisseur nicht so sehr an die Dialoge gekettet."

Tabaks Werk "Gipsy Queen" wurde inzwischen auf dem Filmfest Tallin ausgezeichnet, Tobias Moretti bekam beim Österreichischen Filmpreis 2020 die Auszeichnung für den besten Hauptdarsteller. Der deutsche Kinostart ist für den 21. Mai vorgesehen.

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