• Verkehrsexperte Jens Leven fordert den konsequenten Umbau von Schulwegen aus Kindersicht.
  • Ein Gespräch über Elterntaxis und Gesetze, die den Umbau verhindern.
Ein Interview

Der Weg zur nächstgelegenen Schule ist in vielen Fällen gar nicht so weit. Trotzdem fahren viele Eltern ihre Kinder im Auto zum Unterricht. Damit behindern sie andere Kinder und sorgen für Chaos vor der Schule. "Dagegen hilft langfristig nur, die Infrastruktur konsequent aus Kindersicht zu planen", findet Jens Leven.

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Der Verkehrsplaner ist Experte für sichere Schulwege. Seit über 20 Jahren berät er Kommunen und erarbeitet mit Kindern und Lehrern Mobilitätskonzepte, damit die Kleinen möglichst vom ersten Schultag an selbstständig zur Schule laufen können. Aber solange die Infrastruktur und die Gesetze nicht grundlegend verändert werden, bleibt vieles Flickwerk.

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Herr Leven, Elterntaxis sind bundesweit in Verruf geraten. Wie gravierend ist das Problem, wie viele Eltern bringen ihre Kinder mit dem Auto zur Schule?

Jens Leven: Eine gute Studie gibt es dazu nicht. Ich habe eine Umfrage unter rund 50.000 Eltern, Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Sie ist statistisch zwar nicht repräsentativ, aber sie spiegelt aus meiner Sicht die aktuelle Situation gut wider. Demnach wird bei schlechtem Wetter jedes dritte Kind an Grundschulen und 20 Prozent an weiterführenden Schulen regelmäßig mit dem Auto zur Schule gebracht. Dabei gilt: Je kleiner die Kinder sind, desto mehr Auto.

In den 1970er-Jahren sind 90 Prozent der Kinder allein zur Schule gegangen. Überfordert die Verkehrssituation die Kinder tatsächlich? Oder sind die Eltern heutzutage überängstlich?

Überängstlich ist nur eine Minderheit. Das hohe Verkehrsaufkommen und die Infrastruktur passen nicht zum kindlichen Verkehrsverhalten. Und hier beginnt der Teufelskreis. Wenn die Eltern den Weg zur Schule als "gefährliche Straße" einstufen, fahren sie ihr Kind bis ans Schultor. Damit produzieren sie noch mehr Verkehr und verstärken das bestehende Problem.

Das ist ihnen bewusst. Aber es bringt nichts, mit dem Finger auf sie zu zeigen. Ihr Verhalten hat eine Ursache: Das ist die Infrastruktur, und die wird für Erwachsene geplant. Sie ist an ihre Bedürfnisse und ihr Können angepasst. Kinder vertragen sehr viel weniger Verkehr, als wir glauben!

Wie sollte eine Straße im Schulumfeld aussehen, damit Kinder sie sicher überqueren können?

Die Geschwindigkeit auf Tempo 30 zu reduzieren, ist ein Anfang. Allerdings muss sie über ihre Gestaltung das Tempo auch einfordern. Ist sie breit und verläuft schnurgerade, lädt sie geradezu dazu ein, 50 km/h oder schneller zu fahren. Da hilft ein Tempo-30-Schild alleine nicht.

Die Straße sollte über ihren Belag, Erhebungen auf dem Asphalt oder eine Verjüngung der Fahrbahn mithilfe von Pflanzen die Autofahrer bremsen. Dann bilden Bau und Betrieb der Straße eine echte Einheit. Aber das allein reicht nicht. Wir müssen uns genau ansehen, wie viele Autos dort unterwegs sind und den Kindern gegebenenfalls Übergänge schaffen, mit Zebrastreifen, Ampeln oder Mittelinseln.

Ist das nicht selbstverständlich, in Schulnähe auf viel befahrenen Straßen Zebrastreifen anzulegen?

Überhaupt nicht, im Gegenteil. Technische Regelwerke und die Straßenverkehrsordnung (StVO) erschweren das Anordnen von Zebrastreifen in Tempo-30-Zonen sogar.

Technische Regelwerke sind so etwas wie der Leitfaden oder die Checkliste für Planer?

Genau. Sie beschreiben quasi die Ausstattung einer Straße – also wie man sie plant.

Wann brauchen Kinder einen Zebrastreifen, um Straßen sicher zu überqueren?

Das hängt von der Straße ab. Um eine sieben Meter breite Straße zu überqueren, mit einer Fahrspur in jede Richtung, brauchen Erstklässler etwa elf bis 13 Sekunden. Bei vier bis fünf Autos pro Minute wird es für sie schon knapp, die Lücke zwischen den Pkw zu finden. In einer Stunde sind das rund 280 Autos. Das zeigt: Wir müssen darauf achten, dass da nicht zu viel Verkehr herrscht, um Kinder sicher über die Straße zu bringen.

Zurück zur Rechtslage: Wollen oder dürfen Planer Zebrastreifen oder Mittelinseln in Tempo-30-Straßen nicht anlegen?

Das Anordnen eines Zebrastreifens in Tempo-30-Zonen ist nicht verboten. Allerdings wird es auch nicht empfohlen, und das ist der entscheidende Punkt. Wenn Planende die Regelwerke aktuell kinderfreundlich interpretieren, müssen sie das aufwendig begründen, und das kostet Zeit und erfordert gute Kenntnisse. Einige Kommunen schreckt das nicht ab.

Zum Beispiel?

Es gibt von Südholstein bis nach Baden-Württemberg Dutzende sehr motivierter Projektkommunen wie Tuttlingen, Greifswald, Schwerin oder Heidelberg. Aber häufig stoßen innovative Planer auf Zauderer in der Politik oder der Verwaltung. Wieder andere Kommunen haben Angst vor einem "Dammbruch". Ich höre oft: "Wenn wir dort einen Zebrastreifen anlegen, wollen das andere auch."

Das zeigt: Die Probleme der Kinder sind bekannt und die Lösungen erkannt. Jetzt brauchen die Kommunen Planungssicherheit und das Signal aus der Politik: Die Straßen sollen an die Bedürfnisse der Kinder angepasst werden. Deshalb ist es so notwendig, die Regelwerke jetzt zügig zu ändern.

Gibt es nur beim Überqueren der Straße Probleme oder auch auf geraden Strecken?

Oh ja, die gibt es. Autos, die auf Gehwegen parken, behindern Kinder immens. Das Parken auf Gehwegen ist für mich die Seuche Nummer eins auf dem Schulweg. Es ist absurd. Kommunen bauen wunderbare Gehwege mit 2,5 Meter Regelbreite für Fußgänger und nehmen ihnen dann den Platz wieder weg, um dort Autos abzustellen. Schulkinder, Familien mit Kinderwagen, Menschen mit Gehhilfen oder in Rollstühlen bereitet das enorme Schwierigkeiten.

Sie werden auf Restflächen gedrängt, können oft nicht mehr nebeneinander hergehen und müssen schlimmstenfalls auf die Straße ausweichen. Wir vergessen oft: Grundschulkinder sind klein. Sie können nicht über die riesigen Motorhauben hinwegsehen. Das macht ihnen wiederum das Überqueren der Straße schwer. Das aufgesetzte Parken ist ein echtes Problem und sollte insbesondere auf Schulwegen zügig abgestellt werden.

Sie fordern massive Eingriffe in die bestehende Infrastruktur. Ist es realistisch, dass sie in den kommenden Jahren umgesetzt werden, oder ist das eher Wunschdenken?

Ich bin kein Träumer. Ich weiß sehr genau: Was ich vorschlage, steht für einen Perspektivwechsel in der Verkehrsplanung. Das stößt politisch und gesellschaftlich häufig auf Widerstand. Aber das ist ja nicht unbedingt schlecht. Wir brauchen die Diskussion, wir sollten über den Umbau der Straßen diskutieren und wie wir die schwächsten im Verkehr schützen. Fachlich führen wir die Diskussion ebenfalls.

Ich arbeite ehrenamtlich in verschiedenen Arbeitskreisen der Forschungsgesellschaft für Verkehr und Straßenwesen und habe für das Regelwerk für Fußverkehrsanlagen (EFA) nun das Kapitel neu geschrieben, wie Querungsstellen geplant werden sollten. Darüber werden wir im Arbeitskreis Ende des Jahres ausführlich beraten.

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Aktuell geht es immer darum, die vorhandene Infrastruktur auszubessern. Wie kann man die gemachten Fehler zukünftig vermeiden?

Die Mobilität der Kinder und ihrer Eltern zur Schule sollte schon beim Planen der Bildungseinrichtung stets mitgedacht werden – bei jedem Planungsschritt. Das Mobilitätskonzept sollte auch die Straßen einbeziehen, die zur Schule führen und nicht nur die letzten 200 bis 400 Meter rund um die Schule. Das ist vielleicht etwas aufwendiger, aber es lohnt sich.

Wenn die Kinder selbstständig zur Schule laufen sollen oder in den höheren Klassen per Rad dorthin fahren, brauchen sie altersangemessene, breite, separate Radwege, freie Gehwege sowie Hol-und-Bringzonen für Elterntaxis, die die Kinder nicht behindern. Hier müssen die Kommunen und die Planenden besser werden.

Demnach wird es die Elterntaxis weiterhin geben?

Wir dürfen uns nichts vormachen. Manche Kinder wohnen vier Kilometer von der Schule entfernt. Wenn ihre Eltern sie mit dem Auto bringen, müssen sie sie an zentralen Stellen absetzen können, ohne dabei andere Kinder zu gefährden. Auch das muss Bestandteil des Mobilitätskonzepts einer Schule sein: Hol-und-Bringzonen in Schulnähe. Sie sollten selbstverständlich werden, wie moderne Fahrradabstellanlagen am Schultor.

Über den Experten:
Jens Leven ist zertifizierter Sicherheitsauditor und Geschäftsführer des Büros für Forschung, Entwicklung und Evaluation (bueffee) in Wuppertal und Heidelberg. Außerdem hat er an der Hochschule Wiesbaden einen Lehrauftrag zum schulischen Mobilitätsmanagement und ist ehrenamtlich aktiv in verschiedenen Arbeitskreisen der Forschungsgesellschaft für Verkehr und Straßenwesen.
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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