Wir schreiben das Jahr 2024. Online-Dating ist Alltag und immer mehr Menschen lernen ihren Partner beziehungsweise ihre Partnerin über eine Dating-App kennen.

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Wie eine Hochzeitsstudie der Kartenmacherei ergab, haben 24 Prozent der Befragten im Jahr 2023 die Liebe über Apps wie Tinder, Parship und Co. gefunden. Ein Ergebnis, das verdeutlicht, dass das Dating-Verhalten der Menschen im Wandel ist, ebenso wie Beziehungen selbst. Wie aber genau sieht dieser Wandel aus und wie haben sich unsere Beziehungen verändert? Wir haben mit einem Soziologen gesprochen.

Wieder mehr Eheschließungen in 2022 als im Vorjahr

Laut einer Studie des Statistischen Bundesamtes haben sich 390.800 Paare im Jahr 2022 in Deutschland das Jawort gegeben. Damit wurden rund 9,2 Prozent mehr Ehen geschlossen als im Jahr 2021, das einen historischen Tiefstand mit Blick auf Eheschließungen aufwies. Die Heirat aus Liebe gilt dabei noch als ein vergleichsweise junges Phänomen, denn wie Beziehungen hat auch die Ehe in den vergangenen Jahrhunderten einen Wandel durchlebt.

Das bestätigt auch der Soziologe Prof. Dr. Kai-Olaf Maiwald im Gespräch mit unserer Redaktion. "Die Ehe als gesellschaftlich anerkannte, allgemein institutionalisierte Verbindung von Mann und Frau, die die Legitimität der Nachkommen und deren verwandtschaftliche Einordnung begründet, gab und gibt es eigentlich in allen Kulturen und zu allen Zeiten", erklärt Maiwald und nennt in diesen Zusammenhang auch die besondere Rolle der christlichen Kirche "mit der Ehe als Sakrament und der Konzentration auf das Gattenpaar".

Doch wie entschieden sich früher die Eheleute füreinander? Begeben wir uns zur Beantwortung dieser Frage auf eine Zeitreise zurück ins 19. Jahrhundert. Während dieser Zeit hat ein Ehepaar nämlich nicht allein über die Partnerwahl entschieden, ordnet Kai-Olaf Maiwald ein: "Familie und Verwandtschaft hatten erheblichen Einfluss", hält der Soziologe fest.

Zwar konnte Neigung in Grenzen berücksichtigt werden, "aber bis zum 19. Jahrhundert konnten Besitz und Macht der Abstammungslinie, und natürlich auch deren Fortsetzung durch Nachkommen, entscheidende Motive sein", führt der Experte weiter aus. Ebenso spielten laut Maiwald auch Faktoren wie etwa die soziale Absicherung der Frauen oder der soziale Aufstieg der Männer eine entscheidende Rolle.

Affären wurden "für Männer als erwartbar oder naheliegend angesehen"

Die Liebe spielte bei Eheschließungen bis zum 19. Jahrhundert demnach keine vorrangige Rolle – ist also davon auszugehen, dass zu dieser Zeit Affären entsprechend gängig waren? Wie Kai-Olaf Maiwald festhält, könne die Häufigkeit von Affären sowohl historisch als auch mit Blick auf die Gegenwart nur schwer eingeschätzt werden. Fest steht für den Soziologen aber, dass sie "historisch für Männer als erwartbar oder naheliegend angesehen wurden, ohne wirklich legitim zu sein, während sie heutzutage allgemein als gleichzeitig nicht unwahrscheinlich und als schwere Krise für die Paarbeziehung gelten".

Auch offene Beziehungen haben damals bereits eine Rolle gespielt, allerdings mit einer sozialen Einschränkung. Wie Maiwald vermutet, galt mit Blick auf die Historie "nur für den Adel, dass auch dauerhafte außereheliche Beziehungen in gewisser Weise als eine Normalität angesehen wurden". Wie der Experte erklärt, habe es vor etwa drei bis vier Jahrzehnten erstmals eine öffentliche Diskussion über die offene Beziehung als Beziehungsmodell gegeben, die als "eine (heterosexuelle) Paarbeziehung, bei der konsensuell die Möglichkeit weiterer Intimpartner vorgesehen war", verstanden wurde.

Laut Maiwald ging es im Rahmen dieser Debatte auch um die Frage, ob das Modell der offenen Beziehung eine gesellschaftlich legitime Form der Beziehungsführung sein könne: "Diese Diskussion war allerdings nicht sehr nachhaltig, an der Verbindung von Paarbeziehung und Treue und Exklusivität wurde weiterhin festgehalten", so der Soziologe.

Typus der "bürgerlichen Familie" setzt sich seit dem 19. Jahrhundert durch

Wurden bis zum 19. Jahrhundert Ehen also vorrangig unter dem Motiv der sozialen Sicherung geschlossen, setzt sich seitdem sukzessive der Typus der "bürgerlichen Familie" durch. Damit geht laut Einschätzung des Experten die allgemeine normative Vorgabe einher, "dass der einzige legitime Grund für eine Ehe die wechselseitige Liebe ist". Das Motiv der "guten Partie" ist laut Maiwald demnach nicht mehr artikulationsfähig, vielmehr stehe die Liebe eines Paares im Fokus.

Zu heiraten erfolgt heute also aus deutlich anderen Motiven als etwa um das 19. Jahrhundert herum. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass nicht jede Ehe hält. Wie das Statistische Bundesamt im Juni mitteilt, wurden in Deutschland im Jahr 2022 durch einen richterlichen Beschluss rund 137.400 Ehen geschieden. Die Scheidung wurde zusammen mit der Zivilehe im Jahr 1875 im Deutschen Reich eingeführt. Verlief eine Ehe also unglücklich, war Voraussetzung für eine erneute Heirat lange Zeit lediglich die Verwitwung, erklärt Kai-Olaf Maiwald und ergänzt: "Aufgrund der höheren Sterblichkeit beziehungsweise geringeren Lebenserwartung von Frauen betraf dies in stärkerem Maße Männer. Die Wiederverheiratung war dort, wo Nachkommen fehlten oder für die Bewirtschaftung eines bäuerlichen Hofes oder eines Betriebes ein Ehepartner erforderlich war, hoch."

"Alte Jungfer" oder "Hagestolz"? Wie wurden unverheiratete Menschen gesellschaftlich betrachtet?

Neben der wirtschaftlichen Relevanz einer Ehe spielte früher aber auch der gesellschaftliche Faktor eine entscheidende Rolle. Wie wurde also etwa eine Person betrachtet, die nicht verheiratet war? Wie Maiwald erklärt, gehörte die Ehe "bis vielleicht vor nur wenigen Jahrzehnten zum Status eines Erwachsenen dazu". Bedeutet: "Die 'alte Jungfer', aber auch der 'Hagestolz' (Bezeichnung für einen unverheirateten Mann, Anm. d. Red.) waren nicht wirklich vollgültige Gesellschaftsmitglieder", ordnet der Soziologe ein.

Mit Blick auf die Gegenwart weiß Maiwald aber auch, dass dieser Status heute "nicht mehr so eine entscheidende Rolle" spielt. "Allerdings wird man sich noch immer kaum einen US-amerikanischen Präsidenten oder eine Präsidentin vorstellen können, der oder die unverheiratet wäre", gibt er zu bedenken.

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Was bringt die Zukunft? Könnte es bald mehr offene Beziehungen geben?

Was steckt nun aber hinter dem Wandel unserer Beziehungen? Kann hier von einer evolutionären Entwicklung die Rede sein? Eine Art Evolution im Sinne einer biologischen Entwicklung schließt Kai-Olaf Maiwald aus, "schon allein deshalb, weil die Veränderungen sich in vergleichsweise kurzen Zeiträumen ereigneten". Mit Blick auf den Wandel des Beziehungsgefüges zwischen (Ehe-)Partnern hält der Experte fest, dass diesbezüglich ein normativer Wandel "das alte Rollengefüge von Mann und Frau in der Ehe, das der angesprochene Typus der 'bürgerlichen Familie' durchgesetzt hat, weitgehend aufgelöst hat".

In diesem Zusammenhang erinnert der Soziologe aber daran, dass damit gleichermaßen eine den "Geschlechterstereotypen" entsprechende Arbeitsteilung zwischen den Partnern verschwunden wäre. Weiterhin spielt laut Maiwald die über die Jahrzehnte steigende Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen eine große Rolle. "Was sich hingegen nicht gewandelt hat, sind die allgemeinen Erwartungen der Liebe, Treue und solidarischen Unterstützung der Partner", hält er fest.

Wurde bis zum etwa 19. Jahrhundert weniger aus Liebe als aus gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Gründen geheiratet, erlebt die Eheschließung aus Sicht des Experten heute "eine gewisse Renaissance". Warum das so ist, bleibt laut Maiwald eine weitgehend ungeklärte Frage.

Auch wenn Gleichberechtigung innerhalb von Beziehungen sowie die Toleranz für alternative Beziehungsmodelle in der Gegenwart eine immer größere Rolle spielen, hält Maiwald eine Zunahme von offenen Beziehungen oder Polyamorie in einem quantitativ erheblichem Maß für unwahrscheinlich. Das liegt nach den Beobachtungen des Experten daran, "dass Exklusivität und Treue weithin und weiterhin als zentrale Eigenschaften von Paarbeziehungen verstanden werden".

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Über den Gesprächspartner

  • Kai-Olaf Maiwald ist ein deutscher Soziologe. Seit 2010 ist er Professor für Mikrosoziologie und qualitative Methoden an der Universität Osnabrück. Neben Gutachtertätigkeiten unter anderem für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Studienstiftung des Deutschen Volkes war Maiwald Herausgeber der "Zeitschrift für Soziologie" (2014–2017) sowie der Zeitschrift "Sozialer Sinn" (2000–2010).

Quellen

  • Umfrage des Hochzeitsunternehmens Kartenmacherei
  • Studie des Statistischen Bundesamtes

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