Straßenhunde müssen grundsätzlich von Menschen gerettet und an einen sicheren Ort gebracht werden. Auch wenn der tausende Kilometer entfernt ist. Dieser Denkansatz ist die Basis fast aller entsprechenden "Rettungsmissionen". Der bekannte Hundeexperte Dr. Marco Adda hat dazu jedoch eine komplett andere Meinung.

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Das Wichtigste in Kürze:

  • Hundeexperte Dr. Marco Adda kritisiert die gängige Praxis der Zwangsumsiedlung von Straßenhunden, da sie oft mit großem Stress und posttraumatischen Belastungen für die Tiere verbunden ist.
  • Er betont, dass viele frei lebende Hunde gut an ihre Umgebung angepasst sind, eine soziale Rolle in der Gemeinschaft spielen und nicht zwangsläufig ein menschliches Zuhause benötigen.
  • Die Rettung von Straßenhunden sollte differenziert betrachtet werden, da die Umsiedlung oft eher menschlichen als tierischen Interessen dient und nicht immer eine Verbesserung der Lebensqualität bedeutet.

Vielerorts lösen Straßenhunde einerseits Diskussionen über das Wohlergehen und die Lebensumstände dieser Vierbeiner aus. Unkontrolliertes rasantes Vermehren, Krankheiten, Kämpfe untereinander und Gewalt durch Tierhasser sorgen für Leid auf der Straße. Andererseits verursachen frei laufende Hunde auch – durchaus ernstzunehmende – Ängste vor Angriffen, Attacken und Bissen und deren eventuellen Folgen wie Tollwut bei den Menschen. Manche Reisende warnen in ihren Blogs explizit vor den Gefahren dieser "vierbeinigen Plage" und geben Tipps zur Selbstverteidigung.

Einige Länder gehen sogar noch rigoroser gegen Straßenhunde vor und verabschieden Gesetze, die das Töten dieser Fellnasen erlaubt. Der Denkansatz der meisten Tierschutzorganisationen und engagierter Privatpersonen ist neben Kastrationsaktionen (nach dem Motto: Fangen, Kastrieren, Impfen, Freilassen und an Futterstellen versorgen) folglich der, Straßenhunde aus ihrem bisherigen "Habitat" zu entnehmen und der menschlichen Obhut zuzuführen – oft im westlichen Ausland. Denn das soll sowohl im Interesse der frei laufenden Hunde als auch in dem der Menschen liegen. Das ist die Logik hinter diesem Gedanken.

Eine gänzlich andere Meinung dazu hat Dr. Marco Adda, Gründer und Direktor der "Anthrozoology Education Dogs Canines" (AEDC), Buchautor, Hundetrainer und führender Sprecher zum Wohlergehen von Haushunden. In dem im Oktober 2024 veröffentlichten Buch "Multispecies Communities and Narratives" stellt Dr. Marco Adda gleich in Kapitel 1 die provokante Frage: "Wellness or Hellness?". Bezogen ist diese unbequeme Frage darauf, ob die "Entnahme" von frei laufenden Hunden aus ihren Lebensräumen ihre Lebensqualität wirklich verbessert.

Straßenhunde werden über Kontinente hinweg umgesiedelt

Dr. Marco Adda rügt vor allem die "Pauschalisierung des Straßenhunde-Status". Denn für ihn ist klar: Nicht alle Hunde sind gleich. Natürlich sollen hilfebedürftige Hunde unterstützt werden. Aber gleichzeitig ist es wichtig zu erkennen, dass sich frei laufende Hunde in ihren Lebensräumen auch wohlfühlen.

So stellt Dr. Adda die theoretische Frage, wie sich die zukünftigen Lebensbedingungen eines frei laufenden Hundes verbessern können, wenn er eingefangen und anschließend in ein anderes Land, häufig aber sogar auf einen anderen Kontinent geflogen wird. Anhand einer Weltkarte, die zeigt, wie zuvor freie Hunde auf der ganzen Welt bewegt wurden, unterstreicht der Wissenschaftler diese gängige und bisher von kaum einer Tierschutzorganisation oder einer Privatperson hinterfragte Praxis.

Hundeexperte hinterfragt Sinnhaftigkeit von "Zwangsumsiedlung"

Die Erfahrung der "Umsiedlung" aus ihrem vertrauten Revier ist für die betroffenen Straßenhunde mit hohem Stress verbunden. Viele Vierbeine sind während ihrer "Gefangenennahme", der Gefangenschaft an sich, der medizinischen Untersuchung einschließlich der Sterilisation oder Kastration, während des anschließenden Transports und aufgrund der Ungewissheit zutiefst traumatisiert. All diese Vorgänge stören ganz erheblich das "biopsychosoziale" Gleichgewicht und das allgemeine Sicherheitsgefühl der Fellnasen.

Nachvollziehbar ist daher die Annahme von Dr. Marco Adda, dass in vielen Fällen die körperlichen und emotionalen Schäden aus der Umsiedlung deren vermeintlichen Vorteile bei Weitem übersteigen. "Zwangsumgesiedelte" Straßenhunde zeigen oftmals Symptome einer "posttraumatischen Belastungsstörung". Diese hat nicht nur schwerwiegende Folgen für ihr Leben, sondern auch für das ihre zukünftigen Hundeeltern. Trotzdem werden weiterhin Bedenken hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit und Tierschutz-Initiativen höher angesiedelt.

Straßenhunde auf allen Kontinenten
Straßenhunde auf allen Kontinenten © Foto: pixabay.com/Javad_esmaeili (Symbolfoto)

Frei laufende Hunde erfüllen eine wichtige Aufgabe in ihrem Revier

In seinem Essay "Wellness or Hellness" weist Dr. Marco Adda darauf hin, dass Straßenhunde vielerorts als soziale Unterstützer gelten und kulturelle Symbole sind. So bieten sie alten und einsamen Menschen Gesellschaft, gelten als Spielkameraden für Kinder, fördern die gemeinsame Verantwortung, stärken die Verbindung zwischen den Gemeindemitgliedern, kräftigen das Gefühl der Teilhabe und Zugehörigkeit und das Verantwortungsbewusstsein.

Dr. Adda kritisiert, dass diese Rolle der Straßenhunde nicht anerkannt und nicht sorgfältig abgewogen werde, bevor diese Vierbeiner aus ihrem Revier "entnommen" werden. Oft fehlt auch das Verständnis oder sogar die Einsicht darin, dass Straßenhunde ein wesentlicher Bestandteil der lokalen Gemeinschaft sind.

Der Wissenschaftler bemängelt, dass oftmals gut gemeinte Handlungen, die eigentlich den Tieren helfen sollen, diesen eher unbeabsichtigt Leid zufügen. Der Hundetrainer stellt die rhetorische Frage, ob Hunde, die frei herumlaufen, wirklich gerettet werden müssen. – Oder ob ihre Rettung nicht genau darin liegt, frei zu sein.

Straßenhunde haben auch ihre "menschliche" Familie

In seinem Essay erzählt Dr. Adda auch davon, dass es viele Widerstände gebe. Vor allem von denen, die glauben, dass jeder Straßenhund ein menschliches Zuhause braucht. Oftmals leben Straßenhunde unter – aus dem Verständnis der Initiativen gesehen – schwierigen Lebensbedingungen.

Aber viele Schutzorganisationen unterscheiden dabei nicht zwischen gesunden und freien Hunden und denen, die wirklich medizinische Hilfe oder Pflege benötigen. Auch vergessen viele Befürworter der Umsiedlungen, dass es "verschiedene Ökotypen freier Hunde" gibt. Das bedeutet, dass viele Straßenhunde von Natur aus mit Menschen in Verbindung stehen. Sie haben damit auch eine eigene menschliche "Familie", sind aber dennoch unabhängig und frei.

So beobachtet der Autor dieser Zeilen immer wieder in Thailand, dass Menschen Futter an bestimmten Stellen von ihren Mopeds abladen. Begleitet wird dieses Prozedere von einem Rudel bellender Straßenhunde, die bereits sehnsüchtig auf ihr Fressen warten und auch genau wissen, dass sie von "ihren" Menschen regelmäßig gefüttert werden. Für Urlauber befremdlich mag auch die Menge an Hunden sein, die vor vielen, vor allem ländlichen "7-Eleven"-Stores liegen. Für die Thailänder gehört dieses Bild jedoch zur Normalität, niemand käme auf die Idee, die Vierbeiner wegzuscheuchen.

Als Hoffnungsschimmer sieht Dr. Adda daher die vielen positiven Reaktionen, die er auf seine verschiedenen Initiativen, die er rund um Straßenhunde ins Leben gerufen hat, hin wahrnehme. Die Meinung darüber, ob eine "Entnahme" und eine Zwangsumsiedelung über tausende Kilometer hinweg wirklich praktikabel sind, verändere sich bei einigen Menschen vor Ort.

Fazit: Adoption von Bedürfnissen der Hunde abhängig machen

Die Frage, ob daher frei laufende Hunde mit einer "Zwangsumsiedlung" immer gerettet werden, ist zwar unpopulär und unbequem, sollte aber dennoch gestellt werden. Die Antworten dürften allerdings nicht allen gefallen. Vor allem nicht denen, deren ausschließliches, durch Spendengelder finanziertes Geschäftsmodell das Mitleid mit Straßenhunden ist.

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Anhand der Karte der Umsiedlungsrouten für Straßenhunde sollte eigentlich jedem klar sein: Die Umsiedlung "kann manchmal eine menschenzentrierte Perspektive widerspiegeln, die menschliche Standpunkte über die Werte und das Wohlergehen der Tiere stellt."  © Deine Tierwelt