Mehr arbeiten: Das ist für viele Politiker der Weg aus der Wirtschaftskrise. Arbeitsmarktexperte Enzo Weber sagt hingegen: Mehrarbeit ist nicht die Quelle unseres Wohlstands. Was braucht es also stattdessen?

Ein Interview

Die Wirtschaft in Deutschland strauchelt. Aus der Politik hört man deshalb immer wieder die Forderung: "Die Deutschen müssen wieder mehr arbeiten." Doch horcht man in die Bevölkerung, sind da oft ganz andere Töne zu hören.

Denn wie sie selbst von Mehrarbeit profitieren, sehen viele Menschen nicht. Im Gegenteil. Der Traum vom Eigenheim, einst eins der zentralen Wohlstandsversprechen, scheint für viele in weite Ferne gerückt. Warum sich dann noch mehr abrackern als frühere Generationen?

Enzo Weber weiß um die Probleme von Arbeitnehmern – und sieht gleichzeitig unser Wohlstandsmodell in Gefahr. Aber laut dem Arbeitsmarktforscher und Ökonom nicht, weil nicht alle mehr arbeiten wollen. Sondern vor allem, weil die, die es wollen, es oft nicht können.

Herr Weber, viele jüngere Menschen haben das Gefühl: Der Wohlstand der eigenen Eltern ist für sie durch Arbeit nicht erreichbar. Ist da was dran?

Enzo Weber forscht unter anderem zur Entwicklung des Arbeitsmarkts am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB). Das IAB ist eine Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit. © Michael Bode

Enzo Weber: Nein, da ist überhaupt nichts dran. Die heutige Generation ist bedeutend wohlhabender als jede andere vor ihr. Damit will ich nicht das goldene Zeitalter an die Wand malen. Zur Wahrheit gehört nämlich auch: Das ist nichts Ungewöhnliches. Seit langem war quasi jede Generation wohlhabender als die vorige.

Wohlstand ist in Deutschland aber ungleich verteilt. Laut der Bundesbank verfügen zehn Prozent der Deutschen über mehr als die Hälfte des Nettovermögens.

Mit Blick auf die Löhne hat sich die Ungleichheit verbessert. Über die 1990er- und 2000er-Jahre war sie enorm gewachsen. Seit dem Arbeitsmarktaufschwung der 2010er Jahre geht die Ungleichheit aber merklich zurück. Allerdings gibt es auch noch Einkommen aus Kapital, Aktien, Erbe, Immobilien und so weiter. Anders gesagt: Bei der Vermögensverteilung sieht es mit der Ungleichheit schlechter aus.

Trotzdem ist das Leben für die Menschen teurer geworden. Die Inflation treibt Preise, Energiekosten steigen und Wohneigentum ist in Deutschland oft unerschwinglich. Macht es das nicht schwieriger, sich individuellen Wohlstand zu erarbeiten?

Was ich gerade angeführt habe, ist der preisbereinigte Wohlstand. Da geht es nicht einfach darum, wie viele Euros man heute mehr in der Tasche hat als etwa vor 20 Jahren. Er zeigt, was sich die Menschen von ihrem Geld materiell leisten können. Und das ist heute bedeutend mehr als früher. Trotzdem: Wer sich gerne in München oder Stuttgart ein Haus kaufen will, hat es natürlich schwer. Die Punkte, die Sie ansprechen, stimmen und man muss sie ernst nehmen. Vor allem muss man daraus aber einen Schluss ziehen.

Der wäre?

Wir müssen einen neuen Weg finden, unseren Wohlstand zu steigern. Seit Corona funktioniert das nämlich nicht mehr. Die Reallöhne, also die Löhne abzüglich der Preissteigerung, liegen heute unter dem Vor-Pandemie-Niveau. In den Jahren 2020 bis 2022 hatten wir immense Kaufkraftverluste. Seit 2019 kann man also nicht davon sprechen, dass wir wohlhabender geworden sind.

Und wie kommt man wieder zu steigendem Wohlstand?

Wenn man an einen sicheren Job in Deutschland denkt, hat man den Familienvater aus den 1960ern im Kopf. Wo hat der gearbeitet? Bei einem großen Industrieunternehmen. Dieses industriell getragene Wohlstandsmodell ist in der Krise. Es stützte sich auf Innovationen und starke Geschäftsmodellen aus der Vergangenheit. Wenn wir die Industrie retten wollen, dann dürfen wir sie aber nicht nur bewahren.

Sondern?

Wir müssen sie erneuern. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die moderne und neue Geschäftsmodelle schafft. Etwa durch Förderungen für industrielle Start-ups statt alter Subventionen. Die Potenziale für Neuentwicklungen gibt es. Aber statt dort den Aufbruch voranzubringen, führen wir einen Abstiegskampf um Verbrennermotor und Co. Dabei hätten wir mehr Möglichkeiten, unseren Wohlstand zu verbessern, als viele vorherige Generationen.

Das hieße auch, dass bewährte Unternehmen untergehen – und viele Menschen ihre Jobs verlieren.

Auch bewährte Unternehmen können ihre Geschäftsmodelle transformieren. Und es ist ein Unterschied, ob ich meinen Job verliere und um mich herum alles den Bach heruntergeht. Oder ob man sich um mich reißt, weil ich Fähigkeiten habe, die auch in anderen Bereichen wichtig sind. Als Land der Maschinenbauer und Elektroingenieure haben wir technisch ausgebildete Menschen, deren Grundfähigkeiten gebraucht werden. Etwa mit Blick auf eine Industrie der grünen Erneuerung. Also etwa bei Wasserstoff-, Windkraft- und Gebäudetechnik.

Das klingt sehr simpel. Aber in der Praxis legt doch niemand den Schraubenschlüssel bei VW nieder und baut am nächsten Tag an einer Windturbine mit.

Stimmt. Es wird aber künftig darum gehen, die eigenen erlernten Fähigkeiten für andere Produkte anzuwenden. Dafür braucht es keine kompletten Umschulungen, aber natürlich sorgt das für Unsicherheit bei Arbeitnehmern. Deshalb sind gezielte Beratung, Vermittlung und Qualifizierung wichtig.

So ein Wechsel geht aber auch meist mit Lohneinbußen einher. Das können sich viele Menschen nicht leisten.

Aktuell werden Stellen meist "sozialverträglich" abgebaut. Faktisch heißt das oft: Die Leute bekommen eine Abfindung und verschwinden in den Vorruhestand. Besser wäre es, wenn man Teile der Abfindungssumme verwendet, um das Lohngefälle auszugleichen, wenn diese Menschen in einen neuen Job wechseln, wo sie sich erstmal entwickeln müssen. So eine Entgeltsicherung könnte man politisch unterstützen.

"Über mehr Arbeit ist Deutschland nicht reich geworden – und wird es auch niemals werden."

Enzo Weber, Arbeitsmarktforscher

Sie sagen: Die Menschen müssen in Zukunft flexibler sein, leichter in andere Jobs kommen. Die Politik schlägt hingegen andere Töne an. Dort heißt es: Wir müssen mehr arbeiten. Schwarz-Rot will deshalb Überstunden steuerfrei machen. Hilft das mit Blick auf den Wohlstand?

Überstunden kann man nur bei Vollzeitbeschäftigen fördern. Sonst würden alle ihre Arbeitszeit verkürzen und die Differenz durch steuerfreie Überstunden ersetzen. Gerade Vollzeitbeschäftige wollen aber nicht mehr arbeiten. Arbeitszeiten jenseits der 40 Stunden sind auch leistungs- und gesundheitsschädlich. Und wenn Männer noch länger arbeiten, blockiert das in Partnerschaften oft das Potenzial der Frauen.

Die ständige Forderung an die Bevölkerung, mehr zu arbeiten, ist aus Ihrer Sicht also nicht zielführend?

In der Tat. Über mehr Arbeit ist Deutschland nicht reich geworden – und wird es auch niemals werden. Wir brauchen keine Politik oder zeitgeistige Debatten, die darüber entscheiden, ob wir mehr oder weniger arbeiten. Wenn wir als Wirtschaftsnation erfolgreich sein wollen, sind bessere Technologien und die Qualifikation und Motivation der Arbeitnehmer die wesentlichen Hebel. Trotzdem ist es sinnvoll, wenn mehr gearbeitet wird – aber an den richtigen Stellen.

Und die wären?

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Etwa bei Frauen. Bei vielen knickt die Erwerbskarriere mit der Phase der Familiengründung in der Teilzeitfalle ab. Minijobbende wollen oft deutlich mehr arbeiten. Aber ihnen fehlt es an Anreizen. Wenn es jetzt eine Förderung von Arbeitszeitausweitung gibt, dann sollte man die an der Minijobgrenze besonders stark ansetzen. Viele ältere Arbeitnehmer wollen ihr Arbeitsleben verlängern. Deshalb sollten Jobs nicht mehr automatisch an der Regelaltersgrenze enden, sondern nur auf Wunsch. Die Politik sollte es sich zur Aufgabe machen, den Menschen die Hürden aus dem Weg zu räumen. Wenn sie das schafft, dann hätte man viel geleistet.

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Enzo Weber ist Arbeitsmarktforscher, Makroökonom und Ökonometriker. Er forscht unter anderem zur Arbeitsmarktentwicklung und Konjunktur, wirtschaftlicher Transformation sowie zu Arbeitsmarktreformen und -politik. Derzeit hat er die Leitung des Bereich "Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen" am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg inne. Außerdem ist Weber Inhaber des Lehrstuhls für Empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Regensburg.