Deutschland schlägt Polen zum Auftakt der Fußball-Europameisterschaft mit 2:0, zeigt dabei aber zwei unterschiedliche Gesichter. Warum sich Deutschland zunächst schwertat und wie der Turnaround gelang.

Eine Analyse
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"Einfach nicht so viel nachdenken, einfach mein Ding machen", beschrieb Jule Brand bei der "Sportschau", was ihre Teamkolleginnen ihr für die zweite Halbzeit mit auf den Weg gegeben haben. Denn nach eigenen Angaben war die Flügelspielerin nicht zufrieden mit ihrer Leistung – vor allem in der ersten Halbzeit.

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Unfreiwillig war Brand damit auch ein Sinnbild des gesamten Teams, das sich gegen Polen in den ersten 45 Minuten sehr schwergetan hat, dann aber seine Stärken wiederfinden konnte. Und die liegen vor allem im Offensivspiel.

Deutschlands Probleme in der ersten Halbzeit

Das funktionierte in der ersten Halbzeit nur selten. Grund dafür war unter anderem fehlende Risikobereitschaft. Gerade die Außenverteidigerinnen agierten sehr verhalten und hielten sich noch mehr zurück, als Polen in der Anfangsphase den einen oder anderen gefährlichen Konter setzen konnte.

Das führte mitunter dazu, dass Brand und auch Klara Bühl nur wenige nennenswerte Aktionen hatten. Brand rückte immer wieder in den rechten Halbraum ein, um sich dort die Bälle abzuholen. Ein Verhalten, das offenbar nicht geplant war, wie Christian Wück hinterher in der "Sportschau" analysierte. "Wir haben genau das in der Halbzeitpause besprochen. Wir wollten, dass sie mehr die Außenlinie hält, dass sie von der Außenlinie kommt und dann nach innen zieht", so der Bundestrainer: "Das war genau das, was sie in der ersten Halbzeit nicht gemacht hat."

Stattdessen bot sie sich zentraler an, bekam die Bälle und fand dann aber keine Anschlussaktionen in der sehr engmaschigen Defensive der Polinnen. Auch weil zunächst Giulia Gwinn und später Carlotta Wamser zu tief positioniert waren und nicht mit aufrückten, um ihr die Räume freizuziehen. Und auch Sarai Linder unterstütze Bühl auf der linken Seite zu wenig. So waren die beiden wohl besten Individualistinnen im deutschen Team eher zahnlos.

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Christian Wück passt in der zweiten Halbzeit an – mit Erfolg

Genau das lief in der zweiten Halbzeit dann besser. Vor allem auf dem rechten Flügel fand Wamser nach dem Verletzungsschock rund um Gwinn immer besser in die Partie und traute sich mitunter auch weit nach vorn. Das 2:0 entstand auch deshalb, weil die junge Rechtsverteidigerin mit ihrem Dribbling mehrere Gegenspielerinnen binden konnte und Brand so Platz für die Flanke hatte.

Auch Linder tauchte dann zunehmend weiter vorn mit auf, was Bühl mehr Freiheiten in den Dribblings ermöglichte. Plötzlich konnte die Spielerin vom FC Bayern viel häufiger Tempo aufnehmen und Lücken in der polnischen Defensive finden.

Gerade weil Bühl und auch Brand mit beiden Füßen sehr stark sind, sind sie nur schwer zu verteidigen. Aber die größte Erkenntnis aus diesem Spiel dürfte sein, dass die beiden ihre Mitspielerinnen brauchen, um ihre Qualitäten zeigen zu können. Nur mit der Brechstange wird man bei diesem Turnier wohl nicht weit kommen.

Zu viele Flanken, zu wenig Mut zum Wück-Ball

Generell schien Deutschland in der ersten Halbzeit etwas zu nervös und vorsichtig zu agieren. Die Angst davor, gegen Polen in Rückstand zu geraten, schien größer zu sein als die Lust darauf, selbst in der Offensive Vollgas zu spielen. Eigentlich ist genau das untypisch für das, was die DFB-Frauen bisher unter Wück gezeigt haben.

Sorgen gemacht wurde sich vor dem Turnier eher um die Defensivleistungen. Denn unter dem immer noch relativ neuen Bundestrainer glänzten die Deutschen zwar häufig in der Offensive, sie ließen hinten aber auch immer einiges zu.

Diesmal war das Angriffsspiel nicht nur verhalten, was die Positionierung anging, sondern lange auch zu eintönig. Zahlreiche Flanken flogen in den Strafraum, aber Lea Schüller konnte lange Zeit überhaupt nicht gefunden werden. Erst mit dem Traumtor von Brand schien die Offensivlust zurückzukommen und plötzlich kombinierte Deutschland deutlich häufiger, statt immer nur den hohen Ball zu spielen.

Elisa Senß glänzt in Abwesenheit von Lena Oberdorf

Dass gerade Kombinationsfußball mit diesem Team sehr viel Spaß machen kann, zeigte Elisa Senß. Die Frankfurterin war insgesamt vielleicht sogar die stärkste Spielerin auf dem Feld. Zwar sammelten andere die Highlights ein, dafür leitete die 27-Jährige die Angriffe klug ein.

Senß zeigte sich ballsicher, pressingresistent und spielfreudig. Immer wieder dribbelte sie aus dem Sechserraum an, um auch mal andere Lösungen anzubieten als nur das lange zu monotone Flügelspiel. Mit diesen Impulsen brachte sie das Team spätestens in der zweiten Halbzeit auf Kurs.

Lena Oberdorf fehlt Deutschland mit ihren Qualitäten in der Spielgestaltung und vor allem in der sehr weiträumigen Verteidigung zwar sehr, aber Senß hat abermals gezeigt, dass sie in diese Rolle reinwachsen und den Ausfall so zumindest teilweise kompensieren kann. Zumindest im Spiel mit dem Ball.

Die Defensive bleibt ein wunder Punkt

Denn obwohl die Deutschen zu Null spielen konnten, bleibt die Defensive ein wunder Punkt. Allein der glücklichen Fügung, dass Ewa Pajor mal ausnahmsweise keinen guten Tag im Abschluss erwischte, ist es zu verdanken, dass man ohne Gegentor davonkam.

Polen schaffte es vor allem über die Seite von Linder immer mal wieder, gefährlich in den Strafraum zu kommen und auch die beiden Innenverteidigerinnen Janina Minge und Rebecca Knaak hatten ihre Probleme mit der Geschwindigkeit der Gegenspielerinnen, wenn Polen mal umschalten konnte.

Es zeichnet sich ab, dass Deutschland in diesem Turnier kein Bollwerk mehr wird errichten können. Umso wichtiger wird es aber sein, dass Wück und sein Team die positiven Ansätze im Offensivspiel mitnehmen und für die kommenden Spiele bewusst priorisieren.

Unter dem Bundestrainer galt bisher die Devise: Angriff ist die beste Verteidigung. Nur so wird man bei dieser Europameisterschaft wohl erfolgreich sein können. Oder, um es mit den Worten von Jule Brand zu beschreiben: Einfach nicht so viel nachdenken.

Teaserbild: © picture alliance/dpa/Sebastian Gollnow