Um seine Situation ist Julian Nagelsmann nicht zu beneiden. Er ist, unbestritten, ein guter Trainer und kam mit viel Vorschusslorbeer zum FC Bayern München. Wer einen Arbeitsvertrag über fünf Jahre erhält und obendrein 20 Millionen Euro Ablöse kostet, gilt als Investmentobjekt für die Zukunft.

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So haben es die Bayern auch immer gesagt: Man denke langfristig bei und mit Julian Nagelsmann.

Dummerweise wird im Fußball-Business jede Woche aufs Neue Bilanz gezogen. Beim FC Bayern brutaler als anderswo. Dass man 2022 voraussichtlich die zehnte Meisterschaft in Folge gewinnt, fällt dabei weniger ins Gewicht als zwei weitere Aspekte. (1) Wie schneidet man international ab? (2) Wie ist es um das Binnenklima bestellt? Hier beginnt die vertrackte Situation für Julian Nagelsmann.

Nagelsmanns vertrackte Situation

Zu Punkt 1. Heute Abend droht ihm das Aus in der Champions League. Seine Mannschaft muss gegen Villarreal das 0:1 aus dem Hinspiel wettmachen, also mindestens zwei Tore mehr als der Gegner erzielen, um die Lotterie eines Elfmeterschießens zu vermeiden. Im ersten Spiel hat Villarreal mit kluger und schneller Spielweise Grenzen aufgezeigt, die im Bayern-System verankert sind. Wer ist dafür zuständig? Eben.

Zu Punkt 2. Bisher konnte sich der Trainer darauf verlassen, dass die Mentalität im Team Trotzreaktionen produziert. So im Achtelfinale gegen Salzburg: Dem schmeichelhaften 1:1 im Hinspiel folgte ein 7:1 im Rückspiel. Jojo-Fußball geht aber nicht immer gut. Mit vier Niederlagen in der Bundesliga und dem peinlichen Pokal-Aus in Mönchengladbach zeigte Bayern in der ersten Nagelsmann-Saison konstant Inkonstanz.

Abnutzungserscheinungen sind bei einer Mannschaft, die über Jahre von Erfolg zu Erfolg eilte, nicht ungewöhnlich. Nicht zu vergessen: In dieser Zeit verlor Bayern München an spielerischer Substanz. Thiagos Virtuosität wurde nie gleichwertig ersetzt, und Alabas Vielseitigkeit fehlt bei jeder Gelegenheit. Wenn Abwehrchef Süle dann unter Getöse Richtung BVB abhaut, defokussiert sich eine Mannschaft oft.

Man sagt dann schnell: Der Trainer muss das regeln. Ja, die Behauptung ist gleichzeitig richtig und falsch. Richtig, weil die Mannschaft noch immer stark genug ist, um Villarreal aus der Allianz Arena zu schießen. Und falsch, weil Kleinigkeiten im Fegefeuer der Eitelkeiten die Trainerarbeit erschweren und plötzlich Top-Torjäger wie Robert Lewandowski mit ihrem Abschied kokettieren und schmollen.

Nagelsmann hat halt noch keine Titel gewonnen

Dem Trainer wünscht man in solchen Situation eine ordnende Hand aus dem Verein, die seine Spieler zurück in die richtige Richtung schubst. Denn auch das darf man nicht vergessen: Nagelsmann ist erst 34 und hat als Trainer noch keine großen Titel gewonnen, die ihn als Macher ausweisen. Nicht jeder Starspieler vertraut ihm deshalb blind, dass alles, was an Neuerungen im Training passiert, Positives bewirkt.

Aber die Klubbosse - Hainer, Kahn und Salihamidzic - ringen selbst um jeden Atemzug in ihrem Verantwortungsbereich, sei es bei den Finanzen (Hainer), beim Führungsstil (Kahn) oder bei der Kaderplanung (Brazzo), und verhalten sich auffällig unauffällig. Es ist erstaunlich, dass Julian der junge Fußballlehrer und Repräsentant in Personalunion sein soll. Er regelt, was andere im Verein liegenlassen.

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Nur wird ihm das wenig helfen, wenn er am Dienstagabend das Villarreal-Spiel nicht gewinnt, im Viertelfinale der Champions League ausscheidet und die schlechteste Bayern-Bilanz seit einem Jahrzehnt zu verantworten hat. Genau darin liegt das Vertrackte: An die Umstände erinnert sich dann niemand mehr. Dieses eine Spiel kann seine Langzeitprognose beim FC Bayern ins Schleudern bringen.

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