Wasser zieht an, Wasser bewegt. Das tut ein Bulli auch. Beides mit ein wenig lokalem Bezug kombiniert, ergibt eine Tour, die an der Werra entlangführt.
Die Morgensonne blinzelt an diesem Pfingstsamstag durch unser Schlafzimmerfenster, als ob sie uns sanft zum Aufbruch leiten möchte. Wir lassen es langsam angehen auf unserer Campingtour zur Quelle der Werra. Warum hetzen, wenn man sich in Kürze erholen will? Der Bulli ist bereits beladen. Jetzt nur noch den Proviant in die Kühlboxen, den Dackel in seine Hundebox und die Piloten auf die Sitze. Der Diesel des Oldies startet einwandfrei – das Startsignal an diesem Frühsommermorgen.
Wir wollen der Werra vom Ende bis zum Ursprung folgen und rollen zum Startpunkt nach Hannoversch-Münden. Hier befindet sich der Zusammenfluss von Werra und Fulda zur Weser; der Weserstein soll Ausgangspunkt für unseren Roadtrip sein. Die Werra fließt durch Thüringen, Hessen und Niedersachsen, ein Länder-Hopping mit viel Historie. So folgen wir unserem Leitfluss stadtauswärts unter monumentalen Brücken hindurch in Richtung Nordhessen. Der Fluss wirkt ruhig, natürlich und fließt uns mit einer Breite von rund fünf Metern schimmernd entgegen.
Der erste Halt nach 35 Kilometern ist die Burg Hanstein, Startpunkt für eine Wanderung zur Teufelskanzel, einem Felsblock, der einen wunderbaren Blick auf die Werraschleife bei Lindewerra verspricht. Märchenhaft wie die Sage über die Entstehung der Teufelskanzel ist auch die Wanderung durch den Buchenwald mit urigen Fels- und Wurzelformationen. Lediglich die Angst, Dackel Charly könne in seinem Übermut die Felsen ohne Wiederkehr hinunterrutschen, lenkt uns von der Magie des Ortes ab. Der weite Blick in das Tal über die noch leicht gelben Rapsfelder, den glitzernden Fluss und das im sanften Nebel liegende Bergland lassen unsere Akkus wieder etliche Prozentpunkte hochfahren.
Erloschener Vulkan und Handelsmetropole
Bad Sooden-Allendorf hinter uns, vorbei am Bergmassiv Hoher Meißner und Schloss Rothestein fahren wir in Eschwege ein. Dort findet alljährlich das Open-Flair-Festival am Werratalsee statt. Wunderbarer kann ein Musikevent nicht in Stadt und Natur eingebettet sein. Auch geologisch hat die Kreisstadt etwas zu bieten. Ein Muss auf unserer Route ist die Blaue Kuppe, der Schlot eines seit Jahrmillionen erkalteten Vulkans. Der Steinbruchbetrieb wurde hier um 1930 eingestellt, und die beeindruckenden Basalttürme der Blauen Kuppe stehen nun unter Naturschutz. Charly freut der erneute Aufstieg und der drei Kilometer lange Rundweg. Wir sind hier oben vollkommen allein und können uns dem Vergleich zu Jurassic Park nicht entziehen. Wie in einer Welt der Kreidezeit ragen die bewachsenen Felsen nach oben, absolute Ruhe und genau das, wonach wir gesucht haben. Der Weg hinunter ist rutschig und verlangt uns Turnschuhträgern Balance ab.
Als wir den Bus wieder in Gang setzen, steigen Nebelschwaden aus den Wäldern vor uns empor. Ein Naturphänomen, welches man im Volksmund gern mit der Bemerkung "Die Füchse kochen Kaffee" kommentiert. Mit Lust auf ebendieses Getränk winden wir uns Richtung Wanfried. Die Gaststätte "Zur Schlagd" im historischen Wanfrieder Hafen – einst Endpunkt der Weser-Werra-Schifffahrt und bedeutender Umschlagplatz für Waren von und nach Südosteuropa – hält für uns eine Rast und jede Menge Wissen parat.
Der Name Schlagd kommt von "Slagte", dem Einschlagen von Pfählen, die mit Flechtwerk für die Uferbefestigung sorgten. Schon früh begann der Warenhandel auf der Werra, belegt ist er seit dem 12. Jahrhundert. Das thüringische Mühlhausen war in dieser Zeit bereits eine große Handelsmetropole, hatte aber keinen eigenen Hafen. So ließ man die Ware über Weser und Werra nach Wanfried kommen. Noch heute erinnert der Nachbau eines alten Handelsschiffs, der "Wisera", an die fetten Jahre. Ein kalorienreicher Kuchen in der urigen Gaststätte passt perfekt zum Thema und reicht genau, um den Regenschauer und die zuckenden Blitze da draußen zu überbrücken.
Grenze von BRD und DDR
"On the road again" überfahren wir zum ersten, aber nicht zum letzten Mal die Landesgrenze zu Thüringen. Die Werra bildete in Teilen die Grenze von BRD und DDR. Hinweisschilder zur Grenzöffnung mit Angabe der genauen Uhrzeit verfolgen uns ab hier wie in einem Flug entlang der Zeitzonen. "Wie spät war es denn hier, als die Grenze öffnete?", heißt ab jetzt die Frage, wenn wieder ein solches Schild zu sehen ist. Der Running Gag der Tour.
Regen vermiest uns ein wenig den Blick auf den Heldrastein, den über 500 Meter hohen Berg bei Treffurt in Thüringen nahe der Grenze zu Hessen. Nach Norden bricht er mit markanter Felswand zum Werratal ab. Dort liegt jenseits des Flusses das namensgebende nordhessische Dorf Heldra.
Wir wollen mehr steinerne Zeitzeugen und bekommen sie auch. Kurz nach Creuzburg hat die Verwitterung der Jahrhunderte Kalksteinbänke freigelegt, die sogenannten Ebenauer-Köpfe. Eine beeindruckende Canyon-Landschaft aus Muschelkalk, die wir von einer Werratal-Radweg-Brücke aus bewundern können. Echte Naturschönheiten einfach mal so am Straßenrand im Durchbruchtal der Werra.
Burgruine Brandenburg
Die Stunden vergehen wie im Flug, und das, obwohl uns der Transporter nur mit maximal 90 km/h über die Straßen trägt. Wir nähern uns Eisenach und unserer letzten Station für diesen ersten Tag. Es steht erneut ein Fußmarsch an, um die Burgruine der Brandenburg zu besteigen. Sie liegt im mittleren Werratal gegenüber der hessischen Gemeinde Herleshausen. Der Blick auf den "Klodeckel-Verlauf" der Werra soll von hier oben einmalig sein. Die letzten Reserven mobilisiert wagen wir den Aufstieg und werden nicht enttäuscht. Wieder ganz allein auf dem gesamten Areal der Brandenburg genießen wir den Blick hinab in das Tal auf diese Mäander der Werra. Die Grenze zwischen Hessen und Thüringen verläuft bis heute knapp unter der Burg in der Mitte der Werra. Inzwischen darf der einstige Eiserne Vorhang einfach nur noch Fluss sein.
Heute wollen wir direkt an unserem wässrigen Wegweiser übernachten. Ein kleiner Campingplatz im Eisenacher Stadtteil Hörschel, dem Beginn des legendären Rennsteigs, soll unser Nachtquartier werden. Der Platz wird auch vom ortsansässigen Kanu-Club genutzt und ist Ausgangspunkt für Anhänger dieses Sports aus dem gesamten Bundesgebiet. Klingt riesig, ist aber sehr klein.
Wir treffen lediglich auf Dieter aus Mülheim an der Ruhr, der sich hier für zwei Tage niedergelassen hat. Mit lockerer Zunge erzählt er mir, dass er von hier aus nach Hannoversch-Münden mit dem Kanu gefahren sei. Er fühle sich im Bauche seines Wohnwagens "Villa Olga" zwar wohl, aber länger müsse er hier auch nicht bleiben. Wir besetzen mit unserem Bulli den einzigen Platz direkt an der Werra und merken schnell, was Dieter meint. Neben dem Fluss erheben sich Schicht für Schicht noch Feldweg, Bundesstraße, Bahntrasse und Autobahn. Ein echtes Verkehrsnadelöhr, aber glücklicherweise dank Pfingsten nur mit mäßiger Lärmbelästigung. So überwiegt die Romantik dieses Ortes, denn näher an der Werra geht wohl kaum. Die Enten drehen ihre Kreise, Kanus ziehen vorbei, und das wabernde Wasser verfehlt seine beruhigende Wirkung nicht.
Wir sind da, an unserem Fluss und genießen bei Krakauer und gegrillten Ananasscheiben den ersten Abend unseres Roadtrips. Im Bulli selbst ist es richtig kuschelig, lediglich die Jagd nach den blutsaugenden Werra-Mücken im Innenraum hält uns anfänglich vom Schlaf ab.
Pünktlich mit dem ersten Augenaufschlag hört der Regen auf, auf das Bulli-Dach zu prasseln. Die Scheiben sind beschlagen und machen es uns schwer, einen klaren Blick auf die nun braune Werra nebenan zu werfen. Die Verkehrsrouten gegenüber weisen in diesen morgendlichen Sonntagsstunden wie auch in der Nacht kaum Betrieb auf. Der Magen macht sich durch ein leichtes Grummeln bemerkbar und lässt uns auf Versorgungsmodus schalten. Während die Aufbackbrötchen im Omnia-Ofen goldbraun werden, kommt der Platzwart Hubert vorbei, um Kasse zu machen. Das Geschäftliche geregelt, kommt der Rentner in Erzähllaune. Das Grundstück gehöre seiner Familie schon seit Generationen, und der Kanu-Verein habe sich hier gern niedergelassen. In der aktuellen Saison soll der Platz aber aus familiären Gründen geschlossen bleiben. Eine Alternative ist der Campingplatz in Creuzburg.
Kann man in der Werra angeln?
Ich frage Hubert, ob ich meine Angel in den Fluss halten darf, und wir kommen so auch auf die Verschmutzung der Werra zu sprechen. Ja, es würden hier einige angeln, aber es seien wirklich nur eine Handvoll, weil einfach nicht viel zu holen sei. Hubert bestätigt indirekt, was seinen Ursprung in der Geschichte ab 1900 hat. Schon damals wurde Salz in die Werra eingeleitet. Den zugelassenen Grenzwert hatte man stetig erhöht, aber kaum jemals eingehalten.
Seit den 1960er Jahren gelangten Rückstände der Kaliaufbereitung in katastrophalem Umfang in den Fluss. Durch den Verlauf in Richtung Klassenfeind konnte der DDR-Staatsbetrieb unheimliche Mengen an Salz in die Werra einleiten und überließ den ungeliebten Nachbarn die Probleme der Verschmutzung. Die Salzwerke auf westdeutscher Seite taten es, wenn auch in geringeren Mengen, nach und gaben dem ohnehin schon "verdorbenen" Fluss den Rest. Bedeutsamster Schadstoff ist gelöstes Kochsalz. Über große Strecken hatte die Werra einen Salzgehalt wie die Ostsee. In Perioden geringerer Belastung wanderten immer wieder Fische aus den Nebenflüssen in den Hauptlauf der Werra ein. Für die Menschen wurde die Belastung dann durch periodisch wiederkehrende Fischsterben bei höherem Schadstoffgehalt sichtbar.
Das Frühstück lassen wir uns trotz dieses faden Beigeschmacks schmecken. Wir setzen unsere Reise fort. Der Van startet ohne Probleme und fährt direkt am Strom entlang in Richtung Heringen.
Vom Industriegebiet in den Thüringer Wald
Man merkt, dass wir uns so langsam der Industrie nähern, welche für die Schandtaten am Gewässer zuständig ist. Ein unübersehbares Produkt dieser unseligen Symbiose reckt sich beeindruckend empor. Der Monte Kali oder Kalimandscharo ist der erste Stopp auf der zweiten Etappe. Das Gipfelplateau der silbern strahlenden Abraumhalde des regionalen Kalibergbaus befindet sich auf einer Höhe von 505 Metern und stellt mittlerweile eine Touristenattraktion dar. Der Berg besteht aus etwa 200 Millionen Tonnen Abraumsalz und wächst pro Förderstunde um 900 Tonnen an. Ein 1,5 Kilometer langes Förderband transportiert das Abraumsalz auf den Berg. Die Aufschüttung begann 1973, und mittlerweile besteigen mehr als 10.000 Besucher pro Jahr den künstlichen Berg.
So oft wie auf den nächsten Kilometern der Strecke haben wir die Werra noch nie passiert. Auch die Bahnübergänge, über die der Bulli holpert, sind kaum mehr zählbar. Die Zulieferbetriebe der Düngemittelindustrie bestimmen von nun an das Bild der Landschaft. Fabrikgebäude, Hallen, Fördertürme und Güterbahnhöfe säumen den Weg. Je mehr wir fahren, desto schmaler wird der Fluss.
Endlich lassen wir die großen Siedlungen hinter uns und rollen tief in den Thüringer Wald ein. Interessant, dass etwa zwei Drittel des Mittelgebirges, darunter die komplette Südwestflanke, zur Werra und damit zum Stromsystem der Weser entwässern. Wir sind dem Ursprung schon ziemlich nah. Bevor es richtig bergauf geht, brauchen wir und vor allem der Dackel noch ein bisschen Auslauf. Ein kleiner Schlenker von der Kreisstraße auf einen Feldweg führt uns zu einem wunderbaren Platz umgeben von Bergpanoramen. Hier schmecken der Kaffee und die belgische Waffel gleich doppelt so gut.
Wieder auf der Straße frisst der Bus so langsam Höhenmeter. Kurz vor Masserberg halten wir erneut. Urige Felsformationen lenken uns kurz vor dem Ziel ab. Die Fehrenbacher Schweiz ist wieder einmal so ein Naturdenkmal, für das sich diese Reise lohnt: eine der wenigen Felsformationen im Thüringer Wald und ein mächtiges Massiv aus dunklem Konglomerat am Ortsausgang des alten Glasmacherortes Fehrenbach.
Mit dem Fahrrad zur Quelle
Jetzt aber auf zum Ziel. Wir erreichen Masserberg. Da wir die letzten drei Kilometer zur Quelle nicht mit dem Auto fahren können, fällt die Wahl auf die Fahrräder. Schnell vom Heck geschnallt, sitzen wir auch schon radelnd auf unseren Sätteln und gondeln durch herrliche Fichtenwälder über den Rennsteig. Charly ist am Schnaufen, als es die letzten Meter zügig bergab geht.

Dann nach 329 Kilometern per Bulli und nun noch einigen wenigen per Pedal liegt sie vor uns: die erste Werraquelle am Südhang des Eselsbergs und auf etwa 770 Meter Höhe. Diese auch als Schrödersche Quellfassung bekannte Werraquelle wurde 1898 mit einem Waldfest feierlich eingeweiht. Forstmeister Georg Schröder aus Heubach war der Namensgeber. Aus dem Rachen eines Löwenhauptes fließt seitdem das Wasser, unter dem wir uns kurz, aber verdient erfrischen. Infotafeln weisen auch auf die zweite gefasste Werraquelle bei Siegmundsburg hin. Für uns gilt aber in diesem Moment nur die "Urquelle". Geschafft im wahrsten Wortsinn und ein wenig überwältigt von der Schönheit hier oben. © Promobil