Die gesetzlichen Krankenkassen weisen ein Milliardendefizit auf. Die Bundesregierung will Beitragserhöhungen und Leistungskürzungen vermeiden. Aber was bleibt dann?
Über das Problem sind sich alle einig, immerhin: Den gesetzlichen Krankenkassen fehlt es massiv an Geld. Im vergangenen Jahr fuhren sie dem Bundesgesundheitsministerium zufolge ein Defizit von insgesamt 6,2 Milliarden Euro ein. Ihre Einnahmen decken die Ausgaben nicht mehr, weil die Kosten im Gesundheitswesen vor allem eine Richtung kannten: nach oben.
Das hat mehrere Gründe. Durch Wissenschaft und Forschung gelangen immer wieder neue – und teure – Medikamente auf den Markt. Zudem sind die Gehälter im Gesundheitsbereich gestiegen, zum Beispiel für Pflegekräfte. Wissenschaftlicher Fortschritt und bessere Bezahlung: Das sind eigentlich zwei erfreuliche Entwicklungen. Aber sie haben eben ihren Preis für die Krankenkassen.
Verbandschefin warnt vor Beiträgen, die "durch die Decke gehen"
Die Kassen schlagen Alarm. Die Lage sei "dramatisch", sagte Doris Pfeiffer, Vorsitzende des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), vor kurzem. Zumal die Entwicklung aus ihrer Sicht weitergehen wird. "Es braucht jetzt eine Akuttherapie, denn sonst gehen zum nächsten Jahreswechsel die Krankenkassenbeiträge durch die Decke", sagte Pfeiffer vor kurzem der "Rheinischen Post". Bei der Pflegeversicherung sieht es übrigens nicht besser aus. Im Gegenteil.
Nun gäbe es mehrere Möglichkeiten, um die Finanzlage der Kranken- und Pflegeversicherung zu stabilisieren. Allerdings sind alle mehr oder weniger unpopulär. Oder sie stoßen auf Widerstand bei bestimmten Gruppen.
Höhere Beitragssätze
Eine Möglichkeit: Die Politik könnte die Beitragssätze erhöhen, die Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber in die Sozialversicherung einzahlen. GKV-Chefin Pfeiffer spielt darauf an, dass dieser Schritt ohnehin kommen muss, wenn es keine andere Lösung gibt.
Allerdings wäre dieser Schritt reichlich unpopulär: Den Arbeitnehmern würde weniger netto vom brutto bleiben. Und für Arbeitgeber würden die Lohnnebenkosten steigen, die in Deutschland ohnehin schon hoch sind. Die schwarz-rote Koalition will die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung "langfristig stabilisieren". Das würde eine Erhöhung eigentlich ausschließen. Auch wenn die Beiträge für viele Arbeitnehmer faktisch ohnehin steigen: Viele Kassen haben ihre Zusatzbeiträge zuletzt erhöht.
Höhere Beitragsbemessungsgrenze
Der SPD-Gesundheitsexperte Christos Pantazis hat eine Maßnahme vorgeschlagen, die in erster Linie von Gutverdienern mehr Geld ins System holen würde. Er plädierte in der "Bild" für eine Erhöhung der sogenannten Beitragsbemessungsgrenze um rund 2.500 Euro auf das Niveau der Bemessungsgrenze bei der Rentenversicherung.
Die Beitragsbemessungsgrenze bezeichnet den maximalen Bruttolohn, bis zu dem Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden. Einkommen oberhalb dieser Grenze bleibt beitragsfrei. Die Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung liegt aktuell bei 5512,50 Euro, die der Rentenversicherung deutlich höher bei 8050 Euro. Doch wozu das Ganze? Die Beitragsbemessungsgrenze soll für Fairness im Systen sorgen. Andernfalls wäre die Belastung für bestimmte Einkommensgruppen zu hoch.
Politisch gibt es aber immer wieder Bestrebungen, die Beitragsbemessungsgrenze nach oben hin anzupassen. So wie jetzt bei Schwarz-Rot.
Widerspruch komm hier vom Koalitionspartner CDU und von den Arbeitgebern. Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, sagte der Funke-Mediengruppe, in Deutschland bleibe für Beschäftigte so wenig von jedem erwirtschafteten Euro wie in kaum einem anderen Land der Welt. "Steuern und Beiträge fressen immer mehr vom Lohn auf."
Mehr Beitragszahler im System
Eine weitere Möglichkeit: Mehr Beitragszahler müssten ins System kommen. Zum Beispiel Beamte und Selbstständige. Linke Parteien sprechen sich seit Jahren für die Einführung einer Bürgerversicherung aus, in die alle Menschen einzahlen – auch diejenigen, die bisher noch privatversichert sind.
Doch für diesen Schritt gibt es zumindest bis jetzt keine politische Mehrheit. CDU/CSU wollen am Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung auf jeden Fall festhalten. Schon den Vorstoß von Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas, Beamte und Abgeordnete in die Rentenkasse einzahlen zu lassen, haben sie zurückgewiesen. Zu bedenken ist dabei auch: Je mehr Menschen in eine Versicherung einzahlen, desto mehr Menschen gibt es auch, die Anspruch auf Leistungen daraus haben.
Weniger Leistungen
Und noch eine Möglichkeit: Die Kassen könnten ihre Ausgaben senken, indem sie ihre Leistungen zurückfahren. Auch diesen Schritt müsste allerdings die Politik vorgeben. Und auch hier gilt: Er wäre höchst unbeliebt. Viele Leute sind mit der Qualität des teuren Gesundheitssystems in Deutschland ohnehin schon unzufrieden. Und es wäre politisch schwer zu vermitteln, wenn sie in Zukunft mehr selbst bezahlen müssten.
Die Formel der Koalition lautet daher bisher: keine Beitragserhöhungen und keine Leistungskürzungen. Ja, aber was denn dann?
Dauerlösung Steuermittel
Die Liste der Maßnahmen ist noch nicht zu Ende. Bislang hat sich die Bundesregierung – egal welcher Couleur – meist damit geholfen, Finanzlücken der Kassen mit Steuermitteln zu stopfen. Eine Dauerlösung ist das aber nicht. Erst recht nicht in Zeiten, in denen für alles Mögliche ebenfalls viel Geld verlangt wird: Infrastruktur, Bildung, Klimaschutz, Verteidigung.
Die Krankenkassen drängen den Bund, in Zukunft die Krankenversicherungskosten für Bürgergeld-Empfänger zu übernehmen. Das würde die Kassen eigenen Angaben zufolge um zehn Milliarden Euro entlasten. Auch dieser Posten müsste aus dem Bundeshaushalt bezahl werden. Die Bundesregierung will deshalb auch einen positiven Effekt erzielen, indem mehr Bürgergeld-Empfänger in Arbeit gebracht werden.
Hoffen auf Reformen
Die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) hat bisher nicht verraten, wie sie das große Problem der Kranken- und Pflegeversicherung lösen will. Weil Union und SPD sich bei dem Thema in Grundsätzen uneinig sind, soll eine Kommission Vorschläge erarbeiten.
Zudem hofft der Bund auf weitere Reformen, die die Kosten dämpfen sollen. Zum Beispiel eine verstärkte Nutzung der Telemedizin. Auch die Krankenhausreform, die noch Warkens Vorgänger Karl Lauterbach (SPD) angestoßen hat, soll Kosten einsparen.
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Das Gleiche gilt für das sogenannte Primärarztsystem: Die Buchung eines Facharzttermins soll in Zukunft in erster Linie über Hausärztin oder Hausarzt möglich sein. Diese Reform haben sich Union und SPD vorgenommen. Auch hier gilt: Details sind noch offen, die Kostenersparnis auch. Zu Fragen und Protesten der Patienten wird sie aber bestimmt führen.
Der frühere Minister Lauterbach wollte dem Problem übrigens mit einem besonders umfassenden Ansatz begegnen. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Die Menschen sollen weniger krank werden – etwa mit besseren Vorbeugemaßnahmen gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Doch wer den Menschen heutzutage ein gesünderes Leben ans Herz legen will, gerät schnell in den Verdacht, ihnen etwas vorschreiben zu wollen. Die ganze Angelegenheit bleibt also vor allem: kompliziert.
Verwendete Quellen
- Bundesgesundheitsministerium: Vorläufige Finanzergebnisse der GKV für das Jahr 2024
- Agence France-Presse (afp)
- Rheinische Post: Kassen-Chefin schlägt Alarm und fordert Ausgabenmoratorium
- bild.de: SPD-Vorstoß: Kassen-Beiträge für Gutverdiener drastisch rauf!