Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Wissen, über was politisch diskutiert wird. Heute: verlorene Bodenhaftung, ein wohltemperiertes Merkel-Oratorium und psychologische Kriegsführung.

Guten Morgen, liebe Leser und liebe Leserinnen,
die gute Nachricht für Dieter Zetsche lautet: Die "Aktion Abendsonne" des ehemaligen Daimler-Chefs läuft. Die schlechte Nachricht: Sie läuft gerade aus dem Ruder.
Der Wechsel Zetsches auf den Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden der TUI hatte noch reibungslos geklappt. Zetsches ehemaliger Daimler-Vorstandskollege Klaus Mangold, der nach seinem Ende in Stuttgart zu dem Touristikkonzern gewechselt war, bugsierte Zetsche an die Spitze des TUI-Kontrollgremium. Es lebe die Spezl-Wirtschaft!
Dasselbe Spiel dürfte bei Daimler nicht funktionieren. Zwar sitzt auch dort ein alter Zetsche-Loyalist an der Spitze des Aufsichtsrates, der ihn gerne an seine Stelle nachziehen würde. Manfred Bischoff, der zeitlebens für Zetsche ein Bodyguard war und kein Kontrolleur, sagt: "Dieter Zetsche ist prädestiniert, auch den Aufsichtsrat des Unternehmens umsichtig und erfolgreich zu leiten."
Die Großinvestoren aber sind alarmiert. Zetsche gilt der Kapitalseite mittlerweile als Problem, nicht als Lösung. Er hat den Mercedes-Stern mit seiner Strategie erst poliert – und dann demoliert. Anders als beim Vorgänger Jürgen Schrempp ist kein Totalschaden entstanden, aber schwerer Sachschaden schon.
Die Serie der Gewinnwarnungen jedenfalls reißt nicht ab:
► Im Juni 2018 musste der Konzern seine Prognose zum ersten Mal aufgrund des Dieselskandals korrigieren. Ein "leichter" Rückgang des Betriebsergebnisses wurde angekündigt, ohne nähere Angaben.
► Vier Monate später war aus dem "leichten" Rückgang ein "deutlicher" geworden. Aus den 14,3 Milliarden Euro Betriebsergebnis 2017 wurden 2018 11,1 Milliarden Euro, ein Minus von 22 Prozent.
► Dem Ausscheiden Zetsches im Mai 2019 folgten zwei weitere Gewinnwarnungen noch im selben Jahr. Im zweiten Quartal 2019 schrieb der Konzern einen operativen Verlust von 1,6 Milliarden Euro. Hinzu kamen weitere Rückstellungen von 1,6 Milliarden Euro für den Dieselskandal und eine Milliarde Euro für Airbag-Probleme.
► Am Mittwoch war die dritte Gewinnwarnung seit Zetsches Abgang fällig: Der voraussichtliche Betriebsgewinn für 2019 brach demnach um die Hälfte auf 5,6 Milliarden Euro ein. Kosten für weitere Rückrufe und Strafzahlungen wegen des Dieselskandals, von Daimler selbst auf bis zu 1,5 Milliarden Euro taxiert, sind noch nicht berücksichtigt. Soll heißen: Da kommt noch was.
Die Bilanz der Ära Zetsche endet damit ohne jegliche Wertentwicklung, derweil der DAX und erst recht Tesla kräftig zulegten. Aus Sicht der Investoren lässt sich die 13-jährige Amtszeit so zusammenfassen: Außer Spesen nichts gewesen. Die Mercedes-Werbung ("Das Beste oder nichts") galt für Zetsche, nicht für die Anteilseigner.
Geldhäuser wie Goldman Sachs, HSBC oder DZ Bank raten mittlerweile zum Verkauf der Aktie. Analysten sprechen sich auch gegen die von Manfred Bischoff betriebene Berufung seines Freundes Zetsche in den Aufsichtsrat aus.
Deutlich wird NordLB-Analyst Frank Schwope. Er sagt dem Morning Briefing:
Michael Muders von Union Investment bescheinigt dem Konzern eine "sehr schlechte Verfassung", den Vorstand sieht er "absolut beschädigt". Eine Rückkehr von Zetsche in den Aufsichtsrat hält er für „absolut ausgeschlossen“.
Dem Morning Briefing sagt Muders weiter:
Fazit: Zunächst hat der Aufräumer Zetsche der Firma gutgetan, bevor er die Bodenhaftung verlor. Die Elektromobilität hielt er für ein Hobby von Tesla-Chef Elon Musk; die Formel 1 war ihm wichtiger als der Klimaschutz; die Kunden wurden unter seiner Führung mit einer massenhaft verbauten Diesel-Abschaltvorrichtung getäuscht. Kurz gesagt: Der frühe Dieter Zetsche war eine Bereicherung, der späte ein Irrtum.
Umstrittenes Bundesverdienstkreuz
Am 31. Januar bekommt der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, das Bundesverdienstkreuz. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird ihm die prestigeträchtige Auszeichnung verleihen. Die Reaktionen auf die Entscheidung – nominiert wurde der Italiener von Außenminister Heiko Maas – sind allerdings wenig schmeichelhaft.
Der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler twitterte:
Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber sagte laut "Münchner Merkur":
Bundesbank-Präsident Jens Weidmann, ein erklärter Gegner der lockeren Geldpolitik Draghis, flüchtete sich laut FAZ in die Sprache der Diplomatie:
Wohltemperiertes Merkel-Oratorium
Ihren Auftritt beim Weltwirtschaftsforum in Davos nutzte Kanzlerin Angela Merkel, um die großen Themen zu adressieren. Ihre Rede wurde zu einer Art Regierungserklärung.
Über den Kampf gegen den Klimawandel sagte sie:
Mit Blick auf den Handelskonflikt zwischen den USA und China kritisierte sie Trump, ohne ihn zu nennen:
Auch bei der Frage, ob der chinesische Anbieter Huawei am 5G-Ausbau in Deutschland beteiligt werden sollte, bezog sie dezent Gegenposition:
Fazit: Angesichts amerikanischer Großspurigkeit und einer alarmistischen Greta Thunberg klang das Merkel-Oratorium wohltemperiert. Trump bläst das Horn, Greta schlägt die Pauke und Merkel summt leise ihre Melodie. Das gefällt, schon weil es nicht nervt.
Özdemir wünscht sich mehr Härte gegenüber Erdogan
Beim heutigen Besuch der Kanzlerin in Istanbul dürfte das Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan frostig ausfallen. Es geht um die Kriege in Syrien und Libyen, das Flüchtlingsabkommen mit der EU und den Umgang der Türkei mit unliebsamen Kritikern, auch aus Deutschland.
Grünen-Politiker Cem Özdemir kritisiert im Gespräch mit "Welt"-Vize Robin Alexander, geführt für den Morning Briefing Podcast, die deutsche Position:
Özdemir wünscht sich mehr Härte gegenüber Erdogan. Die Politik der Bundesregierung sollte sein:
Die Autokraten in Moskau und Ankara jedoch kennen ihr Drohpotenzial, meint Özdemir:
Traurige Wahrheit
Merkel geht heute keinen leichten Gang. Sie darf sich selbst nicht verbiegen, und ihn nicht verärgern. Der türkische Türsteher ist ihr wichtigster außenpolitischer Partner. Traurig, aber wahr: Über die innere Verfasstheit der Bundesrepublik wird auch am Bosporus entschieden.
Zumal die Begleitmusik dieses Besuches aus Griechenland unschön herüber dröhnt. Die Zustände in den Lagern auf Lesbos, Chios und Samos sind katastrophal; die Griechen traten am Mittwoch in einen Generalstreik. "Wir wollen unsere Inseln zurück", rufen aufgebrachte Bürger.
Auf den fünf griechischen Inseln leben 210.000 Einwohnern mit mehr als 42.000 Flüchtlingen. In Deutschland würde bei derartigen Zuständen die CDU unterhalb der Tierschutzpartei rangieren. Merkel darf deshalb ihr Portemonnaie heute nicht vergessen. Erdogan weiß wie man Not in Geschäft verwandelt.
LinkedIn anfällig für Anwerbungsversuche
Soziale Netzwerke wie LinkedIn sind offensichtlich nicht nur bei Headhuntern und Karrieristen beliebt, sondern auch in Geheimdienstkreisen. Insbesondere die Microsoft-Tochter LinkedIn sei anfällig für Anwerbungsversuche chinesischer Nachrichtendienste mittels Fake-Profilen, meldet jetzt das Bundesamt für Verfassungsschutz.
Das Ziel der Spione: Über falsche Identitäten versuchen die Chinesen, insbesondere Mitarbeiter von Behörden für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Während es früher persönlicher Beschattungen bedurfte, um sich ein Bild über eine Person und ihre Anfälligkeit zu verschaffen, reicht heute ein Klick auf das hinterlegte Profil. Würde es im Leben gerecht zugehen, müssten Mark Zuckerberg (Facebook-Gründer), Mike Krieger (Instagram-Gründer) und Reid Hoffman (LinkedIn-Gründer) aus Peking eine Prämie bekommen. Sie sind die effektivsten IMs der KP.
"Das ist für mich die wichtigere Perspektive"
Vor wenigen Tagen forderte CSU-Chef Markus Söder einen Umbau des Bundeskabinetts. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer reagierte zunächst ausweichend, nun hat sie Söder eine Absage erteilt. In einem am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos mit der Agentur "Bloomberg" geführten Interview sagte sie:
Fazit: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Die Kabinettsumbildung kommt, aber später. Die Reservemannschaft heißt jetzt Zukunftsteam. Das bedeutet Schonfrist für die schwache Besetzung im Kabinett. Die potenziellen Nachfolgekandidaten müssen sich noch etwas gedulden, sie lauern auf weitere Fehler an der Spitze der Ministerien für Bildung, Verkehr, Wirtschaft und Inneres. Sie trösten sich mit Konfuzius: "Die Menschen stolpern nicht über Berge, sondern über Maulwurfshügel."
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Start in das Wochenende.
Herzlichst grüßt Sie Ihr
Gabor Steingart