Über ein Jahr nach Beginn von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine bekommt auch Russland diesen immer mehr direkt zu spüren. In Moskau häufen sich die Drohnenangriffe und Grenzregionen ächzen vermehrt unter Beschuss. Die Auswirkungen schwächen Putins Rückhalt. Doch der scheint sich nicht beirren zu lassen wollen.
Kremlchef
In russischen Regionen an der Grenze zur Ukraine rennen Menschen wegen massiven Beschusses um ihr Leben. Schienenpartisanen verüben Anschläge gegen Bahnanlagen, um den Nachschub von Kriegsmaterial zu sabotieren.
Immer wieder gibt es große Brände im Land. Doch Oberbefehlshaber Putin demonstriert auch nach gut 15 Monaten blutiger Invasion in die Ukraine Gelassenheit, tut, als geschehe nichts Weltbewegendes.
Russisches Staatsgebiet unter Beschuss: Ärger in der Bevölkerung
"Natürlich schlafe ich", sagte Putin bei einer Videoschalte mit Familien zum internationalen Kindertag am Donnerstag. Sechs Stunden Schlaf brauche er. Nur an diesem Tag sei die Nacht kurz gewesen. Da beschoss Putins Militär wieder die ukrainische Hauptstadt Kiew mit Drohnen und Raketen. Auch ein Kind starb. Doch Putins kurze Nacht hatte andere Gründe.
Die russische Grenzregion Belgorod erlebte erneut massive Angriffe von ukrainischer Seite. Ein Wohnhaus geriet in Brand. Menschen flohen – und beklagen seither, das Staatsfernsehen zeige nur einen Bruchteil der Zerstörungen und verschweige die Wahrheit. Anwohner forderten endlich "Schutz" durch den Staat.
Weil Putin gegen die Ukraine Krieg führt und nun nicht einmal die Sicherheit des eigenen Staatsgebietes gewährleisten kann, wächst die Verärgerung auch vieler patriotisch eingestellter Russen spürbar. Für viele war der Krieg lange Zeit weit weg. Nun brennt er sich in den Köpfen ein.
Experte: Mythos der Unbesiegbarkeit des russischen Militärs ist zerstört
"Die Angriffe in Belgorod zerstören endgültig den Mythos der Unbesiegbarkeit von Putins Militär", sagt der Politologe Abbas Galljamow. Für viele Russen sei der Glaube an die Stärke russischer Waffen stets das wichtigste Kriegsargument gewesen. Galljamow meint, der Machtapparat verliere durch nichts so sehr an Rückhalt wie durch die Unfähigkeit, die Menschen zu schützen.
Putin hingegen lässt durch seinen Sprecher Dmitri Peskow allenfalls ausrichten, dass die Lage in der Region zwar "alarmierend", aber unter Kontrolle sei. Prompt verkündet das Verteidigungsministerium die "Vernichtung" Dutzender Saboteure und "Terroristen". Aber die Lage bleibt gespannt. Fast täglich kommt es zu neuer Gewalt. Es gibt mehrere Tote und Verletzte.
Kriegsstrategie gerät zunehmend in die Kritik
Dabei wächst längst die Kritik an der Kriegsführung insgesamt – auch von Prominenten. Der frühere Chef der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos, Dmitri Rogosin, verlangt neue Mobilmachungswellen.
Die Putin-Vertrauten Ramsan Kadyrow, Anführer der Teilrepublik Tschetschenien, und der Chef der Privatarmee Wagner,
Prigoschin betonte auch, es sei eine Umstellung auf Kriegswirtschaft notwendig, wenn Russland gewinnen wolle. Neben den Wagner-Söldnern stehen noch andere russische Privatarmeen bereit, den Krieg auf eine neue Ebene zu bringen.
Der Ultranationalist und frühere Geheimdienstoffizier Igor Girkin, genannt Strelkow, beklagt indes ein zunehmendes "Kriegschaos" – auch mit Blick auf die Machtkämpfe etwa zwischen Prigoschin und dem Verteidigungsministerium. Immer wieder attestiert der Wagner-Chef Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow "Unfähigkeit".
Putins Krieg gegen den "kollektiven Westen" hilft ihm innerpolitisch
Doch Putin schweigt und zögert. Kremlsprecher Peskow betont allenthalben, weder das Kriegsrecht noch eine neue Mobilmachung würden derzeit diskutiert. Russland werde alle Kriegsziele erreichen. Millionen Russen stünden hinter Putin und der "militärischen Spezialoperation", behauptet Peskow. Zu messen ist das kaum.
Putin und der Machtapparat sehen sich längst im Krieg mit dem "kollektiven Westen" unter Führung der USA, die es auf eine Zerstörung Russlands abgesehen hätten und dafür die Ukraine nur als Schlachtfeld nutzten. Diese Erzählung könnte Putin nach Meinung von Experten bis zur Präsidentenwahl tragen, weil die Konfrontation mit dem Westen als Thema bei vielen Russen traditionell verfängt. Schon jetzt sprechen sich auch Politiker außerhalb der Kremlpartei für eine neue Kandidatur Putins im März 2024 aus.
Unabhängige Beobachter hingegen meinen, Putin sei der Realität entrückt, vermeide auch Auslandsreisen, weil ein internationaler Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen in Kraft ist.
Politologin: Kurswechsel Russlands zu erwarten ist naiv
Zu strategischen Fragen äußere sich Putin kaum noch, sagt die Politologin Tatjana Stanowaja. Linie des Kremls sei, auf keinen Fall in Alarmismus zu verfallen, um so Unruhe oder Panik in der Gesellschaft zu verhindern. "Deshalb ist es besser zu schweigen", sagt Stanowaja.
Der Kreml kontrolliere nicht nur die Medien – und besitze damit die Deutungshoheit über Ereignisse wie die ukrainischen Angriffe. Putin setze auch weiter auf die "Geduld des russischen Volkes", auf seine Unerschütterlichkeit und seinen Zusammenhalt. "Wie hart auch die ukrainischen Attacken ausfallen, Putin ist überzeugt, dass diese keine Unzufriedenheit mit dem Machtapparat provozieren können."
Es sei naiv, einen Kurswechsel in Russland zu erwarten, meint Stanowaja. "Putins Plan besteht darin, auf tiefe Veränderungen im Westen und in der Ukraine zu warten, die aus seiner Sicht nur eine Frage der Zeit sind." Die Angst vor der angekündigten ukrainischen Gegenoffensive trete da in den Hintergrund. Putin könne auch mit einzelnen örtlichen Niederlagen leben, sagt sie.
Der Kreml setze vielmehr darauf, dass die Ukraine am Ende militärisch scheitert, dass es dann zu einer Spaltung der Eliten kommt und die Chancen für eine Kapitulation Kiews wachsen – und auch der Westen seine militärische und politische Unterstützung zurückfährt. Ob dieses Aussitzen von Problem und Nichthandeln Folgen hat? "Offenbar fürchtet Putin keine Folgen", sagt Stanowaja. Eine andere Frage sei, ob er damit richtig liegt. "Wir werden sehen." (dpa/thp)

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