Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Wissen, über was politisch diskutiert wird. Heute: Joe Bidens Rede war vielleicht nicht positiv aber dafür realistisch.
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
Das war nicht die Rede, die der ukrainische Präsident sich von seinem amerikanischen Kollegen erhofft hatte.
Putin werde einen Preis zahlen, sagte er. Der Westen sei geschlossen. Putin werde auf eine Wand der Einigkeit treffen. Der Mann im Kreml sei isoliert:
Aber nach dieser Erweckungsrede machte es puff: Die USA werde russische Fluggesellschaften aus dem amerikanischen Luftraum verbannen. Das wars. Keine militärische Unterstützung für die Ukraine. Keine weiteren Sanktionen. Keinen Verzicht auf russische Lieferungen von Gas und Öl nach Amerika und West-Europa. Putin ist isoliert, aber sein zentrales Geschäftsmodell, den Verkauf von Energie, kann er aus der Isolation weiter betreiben.
Auch die Sanktionen bezüglich der Swift-Transaktionen im internationalen Finanzsystem sind so designt, dass der Westen für seine Energielieferungen pünktlich bezahlen kann - in Hartwährung. Der Krieg läuft und die russischen Energiegeschäfte laufen auch.
Biden ist der Präsident, der die ausländischen Kriege der US-Armee beenden will, nicht neue beginnen. Die Schmach von Kabul wirkt nach. Kiew wird kein zweites Kabul werden, das war im Grunde die tiefere Botschaft von Biden. Er bereitete seine Landsleute auf schwierige Nachrichten aus Osteuropa vor. Das Lob der ukrainischen Tapferkeit klang wie das Requiem auf ihre Freiheit.
Es war so gesehen keine positive Rede. Es war eine realistische Rede. Und deshalb war es eine bittere Rede. Die unbequeme Wahrheit ist diese: Putin ist isoliert - und die Ukraine ist einsam. Der Westen ist geschlossen - aber geschlossen dagegen, militärisch einzugreifen. Der Westen schaut zu, wie die russische Python ihr ukrainisches Opfer erdrückt. Biden sprach als Schlangenbeschwörer. Aber er berührte das Biest nicht.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste,
Ihr
Gabor Steingart