• Jahrelang hat eine Kommission in Polen die Schäden durch Nazi-Deutschland ausgerechnet.
  • Jetzt steht eine Summe im Raum: mehr als 1,3 Billionen Euro. Warschau will von Deutschland nun Reparationen.
  • Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

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Mehr als 1,3 Billionen Euro: Auf diese Summe beziffern sich nach einem polnischen Gutachten die Schäden, die dem Land durch Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg entstanden. Es ist gigantisch viel Geld, und die Verkündung der Summe behielt sich der starke Mann der polnischen Politik selbst vor.

Jaroslaw Kaczynski, der Vorsitzende der nationalkonservativen Regierungspartei PiS, sagte: "Die Deutschen sind über Polen hergefallen und haben uns einen unglaublichen Schaden zugefügt, die Besatzung war besonders grausam." Polen werde nun Reparationsforderungen stellen. Und die Summe sei für die deutsche Wirtschaft über Jahrzehnte durchaus zu stemmen.

Lange hatten Polens Nationalkonservative mit der Veröffentlichung des immer wieder angekündigten Gutachtens gewartet. Nun ist der dafür gewählte Tag so symbolisch wie der Ort. Am 1. September, dem 83. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, präsentierte eine Parlamentskommission ihren Bericht - und die Rechnung. Und das im Warschauer Königsschloss, einem Symbol für die einst fast komplett zerstörte Hauptstadt.

Worauf beziehen sich die polnischen Forderungen nach Entschädigung?

Der deutsche Überfall auf Polen war der Beginn des Zweiten Weltkriegs mit mindestens 55 Millionen Toten - andere Schätzungen kommen sogar auf bis zu 80 Millionen. Genaue Zahlen gibt es nicht. Polen hatte gemessen an der Gesamtbevölkerung so viele Tote zu beklagen wie kein anderes Land.

Nach den Berechnungen in dem jetzt vorgestellten Bericht kamen dort durch Krieg und deutsche Besatzung mehr als 5,2 Millionen Menschen ums Leben, ein Fünftel davon Kinder unter zehn Jahren. Zudem wurden den Angaben zufolge mehr als 2,1 Millionen Männer und Frauen als Zwangsarbeiter verschleppt.

Um welche Summe geht es?

Der Bericht beziffert die Weltkriegsschäden auf 6,22 Billionen Zloty. Umgerechnet zum aktuellen Kurs sind das knapp 1,32 Billionen Euro. Allein die Verluste für die Volkswirtschaft durch nicht mehr erbrachte Einkommen der Getöteten schätzte die Kommission auf 919 Milliarden Euro.

Den materiellen Schaden, der durch den deutschen Angriff und die Besatzung entstand, beziffert das Gutachten auf 170 Milliarden Euro. Hinzu kommen zerstörte Kulturgüter und Kunst im Wert von vier Milliarden.

Wurde die Kriegsschuld denn nie beglichen?

Im Potsdamer Abkommen von 1945 einigten sich die vier Siegermächte, dass die Sowjetunion aus der sowjetischen Besatzungszone im Osten Deutschlands entschädigt wird und Polen einen Anteil zukommen lässt. Bis 1953 wurden nach Schätzungen etwa 3.000 Betriebe demontiert und zusätzlich Güter aus laufender Produktion abtransportiert.

Warschau argumentiert aber, dass Polen seinen Anteil durch Kohlelieferungen an die Sowjetunion habe ausgleichen müssen. Außerdem seien westliche Staaten wie Frankreich und die Niederlande deutlich besser behandelt worden.

Was ist die Position der Bundesregierung zu den Reparationsforderungen?

Für die Bundesregierung ist das Reparationsthema mit dem 2+4-Vertrag über die außenpolitischen Folgen der deutschen Einheit von 1990 rechtlich und politisch abgeschlossen. In dem Vertrag zwischen Bundesrepublik, DDR und den vier ehemaligen Besatzungsmächten USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien sind Reparationen allerdings nicht ausdrücklich erwähnt. Außerdem waren zahlreiche angegriffene und besetzte Staaten wie Griechenland und Polen an den Verhandlungen nicht beteiligt.

"Die Position der Bundesregierung ist unverändert. Die Reparationsfrage ist abgeschlossen", sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes am Donnerstag in Berlin. Polen habe schon 1953 auf weitere Reparationen verzichtet und diesen Verzicht mehrfach bestätigt. "Dies ist eine wesentliche Grundlage für die heutige Ordnung Europas."

Warum veröffentlicht Polen den Bericht jetzt?

Vertreter der nationalkonservativen Partei PiS, die seit 2015 in Polen regiert, haben das Thema Reparationsforderungen immer wieder aufgebracht. 2017 entstand auf Initiative der PiS eine Parlamentskommission, die einen Bericht erarbeiten sollte. Im November gründete Polen zudem ein Forschungsinstitut für Kriegsschäden.

Kaczynski sagte jetzt, andere Länder hätten von Deutschland Entschädigung bekommen - Polen aber nicht. "Wir können nicht zur Tagungsordnung übergehen, weil irgendjemand glaubt, dass Polen eine andere, niedrigere Kategorie sei als andere Länder."

Folgt auf das Gutachten nun eine konkrete Forderung von Polen an die Bundesregierung?

Kaczynski hat zwar angekündigt, dass Polen von Deutschland Entschädigungszahlungen fordern wird. Er nannte dafür aber kein konkretes Datum. Vielmehr räumte er selbst ein, dass es zur Durchsetzung der Reparationsforderungen ein "langer und schwieriger" Weg sei.

Politische Beobachter in Warschau gehen davon aus, dass die PiS die Forderung nutzen wird, um bei der Parlamentswahl im Herbst 2023 Stimmen zu gewinnen.

Stellen auch andere Länder Reparationsforderungen an Deutschland?

Ja. Griechenland hat Deutschland Anfang Juni mit einer sogenannten Verbalnote offiziell zu Verhandlungen über Reparationen aufgefordert. Die Regierung in Athen - damals noch unter dem linken Regierungschef Alexis Tsipras - war dazu vom Parlament aufgefordert worden. Eine griechische Parlamentskommission hatte die Summe für die von Deutschland verursachten Schäden im Zweiten Weltkrieg zuvor auf 289 Milliarden Euro geschätzt - inklusive einer Zwangsanleihe, die Griechenland der Deutschen Reichsbank während des Kriegs gewähren musste. Der derzeitige konservative griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis hat sich die Forderung nach Verhandlungen zu eigen gemacht. (dpa/fab)

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