Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Wissen, über was politisch diskutiert wird. Heute: die Trümpfe des bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chefs.
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
die Wölfe heulen den Mond an und die journalistische "Meute" (Helmut Schmidt) den Mann aus Bayern. Markus Söder wird von fast allen Kommentatoren mitverantwortlich gemacht für den Machtverlust der Union in Berlin: Laschets Schaden, aber
In Wahrheit ist nur das eingetreten, wovor Söder gewarnt hatte: Ein Gremien-Kandidat fiel beim Publikum durch.
Söder hat sich in dieser Phase nicht neutral verhalten, sondern kräftig mitgeblasen. Immer von vorn. Nie von hinten. Das könnte ihm jetzt zum Verhängnis werden. Viele Gründe sprechen in diesen turbulenten Tagen gegen die weitere Promotion des Bayern, aber eben nicht alle. Mindestens vier Argumente sind zu seinen Gunsten zu nennen:
1. Angriffslust
Söder beherrscht die ideenreiche Attacke. Er kennt – das genau hat er in der Auseinandersetzung mit Laschet und zuvor mit Seehofer bewiesen – die Schmerzpunkte des Gegners. Und er scheut sich nicht, sie zu drücken. Damit ist er derzeit der einzige Herausforderer, den Olaf Scholz wirklich fürchten müsste.
Die anderen werden den neuen Kanzler kritisieren. Söder greift ihn an. „Narben sind die Orden der Politik“, lautet sein Credo, schreiben Roman Deininger und Uwe Ritzer in ihrer Biografie „Der Schattenkanzler“. Sie zitieren einen aus der Söder-Gefolgschaft mit den Worten: „Er besitzt den Schuss Brutalität, der es leichter macht.“
2. Analysefähigkeit
Söders Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ist auf der Höhe der Probleme. Anders als
3. Anpassungsfähigkeit
Wenn seine Gegner ihn deshalb des Opportunismus oder des Populismus bezichtigen, dann kann man diese Vorwürfe auch anders lesen. Söder ist anpassungsfähig. Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt: „Vergangenheit und Gegenwart bilden die Inkubationszeit eines Ungeheuers, das unter einem trügerisch harmlosen Namen am Horizont auftaucht: das Neue.“ Söder, wahrscheinlich ohne Sloterdijk je gelesen zu haben, versteht, was hier gemeint ist. Einer wie Friedrich Merz will das Ungeheuer erdolchen. Söder füttert es. Merz konfrontiert den Zeitgeist; Söder versucht, das Neue durch Integration zu domestizieren.
4. Einmaligkeit
Die Persönlichkeit des CSU-Chefs ist nicht für alle liebenswert, aber sie ist unique. In einer Welt der Plagiate ist er ein Original. Söder verbindet die Breitbeinigkeit von Strauß und die Volksnähe von Kohl mit der Wendigkeit eines Konzernchefs wie Herbert Diess, der mit Wucht und Leidenschaft von Verbrenner auf Elektromotor umgeschaltet hat, als sei das schon immer sein Anliegen gewesen. Diese extravagante Mischung macht Söder für Wähler interessant. Er ist ein politischer Abenteurer, keine Frage, aber dieser Sachverhalt begründet eben beides: heftige Ablehnung und treue Gefolgschaft.
Fazit
Diese Anmerkungen zur Führungskrise der Union sind kein Plädoyer für einen Kanzlerkandidaten Söder. Aber sie sind ein Plädoyer wider die ewige Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung in Harmlosigkeit. Oder um es mit Peter Ustinov zu sagen: "Vollkommenheit hat keinen Charakter."
Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr
Gabor Steingart