SPD-Fraktionschef Matthias Miersch über die Krise seiner Partei, schwarz-rote Reformprojekte und die Frage, wo Deutschlands Solidarität mit Israel endet.
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Miersch findet, dass Schwarz und Rot einen vielversprechenden Start hingelegt haben. Also alles wieder gut bei den Sozialdemokraten? Nein, sagt Miersch – und wirbt für einen Erneuerungsprozess.
Herr Miersch, als SPD-Generalsekretär waren Sie mitverantwortlich für das schlechteste Wahlergebnis der Nachkriegsgeschichte. Jetzt sind Sie Fraktionschef. Womit haben Sie das verdient?
Matthias Miersch: Ich glaube nicht, dass man alles an meiner Person festmachen kann. Es stimmt, unser Wahlergebnis war schlecht. Darum müssen wir Lehren daraus ziehen. Noch in meiner Rolle als Generalsekretär habe ich daher die Aufarbeitung eingeleitet. Eine Kommission soll dem Bundesparteitag Ende Juni erste Empfehlungen zur Erneuerung geben. Da geht es um Fragen der Programmatik und wie wir für Wählerinnen und Wähler wieder attraktiv werden können. Es braucht aber auch einen größeren Prozess. Dazu wird die Kommission Vorschläge machen.
Welche Rolle spielen Sie dabei?
Der Fraktionsvorsitzende ist wichtig. Er ist für das Zusammenspiel zwischen Regierung, Fraktion und Partei entscheidend – und damit auch für den Erfolg der SPD. Dafür bringe ich einige Dinge mit. Ich kenne die Fraktion gut, habe einen klaren inhaltlichen Kompass. Und: Alle drei Strömungen der Fraktion haben mich gefragt, ob ich das Amt übernehmen will. Ich habe also die flügelübergreifende Rückendeckung der Fraktion. Das trägt mich.
Die SPD ist bei der Bundestagswahl auf 16,4 Prozent abgestürzt. Doch zwei der führenden Köpfe – Sie und Parteichef
Wir diskutieren das Wahlergebnis und ziehen unsere Konsequenzen daraus. Das Kabinett, die Fraktionsführung und künftig auch der Parteivorstand stellen sich ganz neu auf. Dabei setzen wir auf neue und erfahrene Politikerinnen und Politiker, sowie auf erfolgreiche Wahlkreisarbeit. Lars Klingbeil und ich haben beide den Wahlkreis direkt gewonnen – entgegen dem Trend. Und schauen Sie sich auch die Beliebtheit von Lars Klingbeil in der Bevölkerung an. Ich glaube schon, dass wir die SPD gut repräsentieren können.
Wie soll der Wiederaufbau der SPD gelingen? Unser Eindruck ist: Die zerrupfte SPD muss sofort weiterregieren. Für die Partei und den Blick ins Innere bleibt wenig Zeit.
Wir hatten keine Zeit, erstmal einen Arbeitskreis zu bilden und die Regierungsbildung brachliegen zu lassen. Die Bürger haben einen Anspruch darauf, dass das Land schnell und geräuschlos regiert wird. Trotzdem dürfen wir nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir arbeiten jetzt intern auf. Eines ist mir aber wichtig: Es ist auch nicht so, dass wir keine Wahlen mehr gewinnen können. Eine Woche nach der Bundestagswahl hat die SPD in Hamburg ein sehr gutes Ergebnis geholt und ist stärkste Kraft geworden.
"Wir haben im Wahlkampf vielleicht zu sehr auf einzelne Gruppen geschaut – und weniger auf die große Erzählung."
Wo muss sich die SPD verändern?
Wir haben im Wahlkampf vielleicht zu sehr auf einzelne Gruppen geschaut – und weniger auf die große Erzählung. Aus meiner Sicht müssen wir uns über die drei großen P’s unterhalten. Da ist die Programmatik: Was heißt Solidarität im 21. Jahrhundert? Das ist nicht immer klar. Es gibt Herausforderungen wie KI, auf die wir noch keine einheitliche Antwort haben. Das zweite P ist die Frage der Personen: rekrutieren wir überzeugende Kandidatinnen und Kandidaten – und fördern wir junge Gesichter genügend? Das dritte P ist die Partei. Hier geht es vor allem um Kommunikation, gerade im Zeitalter von Social Media. An diese drei Baustellen müssen wir ran.
Der Münchner Oberbürgermeister hat im Interview dieser Redaktion gesagt, dass sich die SPD zu viel um Leute gekümmert hat, die nicht arbeiten – und zu wenig um die, die arbeiten. Hat er einen Punkt?
Dieter Reiter spricht einen Punkt an, über den wir nachdenken müssen. Wenn die Menschen den Eindruck haben, dass wir nur übers Bürgergeld diskutieren, ist das schlecht – und es geht an der Sache vorbei. Denn natürlich setzen wir uns gleichermaßen für bezahlbares Wohnen, gute Löhne und eine starke Wirtschaft ein. Ich glaube, da ist vieles im Ampel-Streit untergegangen. Trotzdem müssen wir uns fragen, ob wir auch kommunikativ immer die richtigen Schwerpunkte setzen.
Was unterscheidet Schwarz-Rot von der Ampel?
Ganz viel. Aber auch hier sind es drei Parteien, wie bei der Ampel. CDU und CSU vertreten nicht immer nur eine Meinung. Die ersten Wochen haben aber gezeigt, dass wir das Miteinander suchen. Die Bürger sollen schnell sehen, dass es tatsächlich Veränderungen gibt, dass das Leben an der einen oder anderen Stelle auch ein bisschen einfacher wird. Den Streit der Ampel wollen wir hinter uns lassen. Deswegen geht vom Koalitionsausschuss ein starkes Zeichen aus: Wir schieben die Dinge jetzt an.
Wir hören trotzdem schon einige Meinungsverschiedenheiten. Etwa beim Mindestlohn, der Arbeitszeit oder bei der Rente.
Es ist kein Geheimnis, dass Union und SPD unterschiedliche Ansätze haben. Ich habe nicht umsonst im Wahlkampf von einer Richtungsentscheidung gesprochen. In einer Demokratie müssen am Ende aber Kompromisse geschmiedet werden. Dass man auf dem Weg dahin diskutiert und sich austauscht: Ja, das ist Politik.
Mit dem Ausscheiden der FDP fehlt ein Treiber in der Rentenpolitik. Bei Schwarz-Rot geht es vor allem um Klientelpolitik zulasten der Jungen. Sind Union und SPD Boomer-Parteien?
Nein, überhaupt nicht. Ich glaube auch nicht, dass der FDP-Ansatz so zukunftsweisend ist, wie Sie es darstellen. Ich bin überzeugt: Auch die Jüngeren müssen sich auf das Rentensystem verlassen können – eines, das auf Solidarität basiert. Natürlich braucht es auch bei der Rente Veränderungen. Die Koalition setzt hierzu eine Kommission ein, die Vorschläge erarbeiten soll. Für mich bleibt der Solidargedanke aber entscheidend. Eigenvorsorge ist schön. Es darf aber nicht sein, dass Menschen mit wenig Geld durchs Raster fallen.
Noch komplizierter als die Rente sind die Probleme bei der Kranken- und Pflegeversicherung. Dafür hat Schwarz-Rot im Koalitionsvertrag "tiefgreifende strukturelle Reformen" versprochen. Wie sollen die aussehen?
Die medizinische Versorgung wird immer besser, aber wir müssen einen Weg finden, um Kosten zu dämpfen und das System effizienter zu machen. Die Wartezeiten von gesetzlich Versicherten für einen Facharzttermin wollen wir verkürzen. Eine notwendige große Strukturreform wäre für uns als SPD die Einführung einer Bürgerversicherung, die gesetzliche und private Versicherungen zusammenführt. Das wird mit CDU und CSU nicht zu machen sein. Auf dem Weg dorthin gibt es aber noch viele andere Stellschrauben, die wir drehen können.
Warum versprechen Sie Strukturreformen, wenn Sie wissen, dass Sie sich auf einen großen Wurf wie die Bürgerversicherung ohnehin nicht einigen können?
Wir können uns schon anschauen, wie die Lasten zwischen gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen verteilt werden. Denn es gibt bereits Zahlungsflüsse von den privaten an die gesetzlichen Krankenkassen. Außerdem setzen wir eine Kommission ein, die sich die Zukunft der Krankenversicherung anschauen wird.
Schwarz-Rot hat im ganzen Koalitionsvertrag sogar mehr als 20 Kommissionen vereinbart.
Ja, und das ist nichts Schlimmes, im Gegenteil. Bei der Rente oder in der Gesundheit besteht für viele Menschen ein großer Wirrwarr. Sie dringen durch bürokratische Strukturen nicht mehr durch. Deswegen müssen wir uns das ganze System und seine Probleme genau anschauen und verschlanken. In zweiwöchigen Koalitionsverhandlungen kann man aber nicht mal eben den ganzen Sozialstaat neu skizzieren. Dazu holen wir die Wissenschaft und Interessengruppen an einen Tisch. Das gehört zum seriösen Regieren dazu.
Kommissionen bergen aber die Gefahr, dass Streitfragen dorthin ausgelagert werden – und man sich am Ende doch nicht einigt.
Wenn die Kommissionen gearbeitet haben und zu Ergebnissen gekommen sind, wird der Bundestag am Zug sein. Vielleicht wird man dann einiges noch einmal diskutieren müssen. Ich bin aber guten Mutes, dass wir das schaffen. Wir müssen die Sozialsysteme für die Zukunft sichern und entbürokratisieren. Das haben wir den Bürgerinnen und Bürgern versprochen.
Wann sollen es damit losgehen?
Die Kommission zur Reform des Sozialstaats soll schon bis Ende des Jahres erste Ergebnisse vorlegen, sie wird also sehr zeitnah eingesetzt. Die Renten- und Gesundheitskommissionen folgen danach.
"Es darf keine Denkverbote geben, wenn es um die Wiederherstellung und Durchsetzung völkerrechtlicher Grundsätze geht."
Besonders aufgeheizt ist derzeit die internationale Lage. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und auch einige SPD-Politiker haben die israelische Regierung für ihr Vorgehen im Gazastreifen zuletzt ungewöhnlich scharf kritisiert – zumindest rhetorisch. Welche Taten folgen daraus?
Das derzeitige Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza – insbesondere die anhaltende Blockade humanitärer Hilfe und die Zerstörung ziviler Infrastruktur – steht in einem tiefen Spannungsverhältnis zum humanitären Völkerrecht. Das können wir nicht hinnehmen. Der Schutz der Zivilbevölkerung ist eine völkerrechtliche Pflicht. Ich bin dem Bundeskanzler dankbar, dass er das klar angesprochen hat.
Und was folgt daraus?
Mit unseren europäischen Partnern müssen wir nun intensiv beraten, welche Handlungsoptionen bestehen. Deutschland trägt als historische Täternation eine besondere Verantwortung für Israel – aber damit auch für die dort lebenden Palästinenser und das Völkerrecht insgesamt. Auf dieser Grundlage werden wir eine angemessene und verantwortungsvolle Antwort finden.
Zuletzt hat Deutschland aber nicht mitgestimmt, als sich eine Mehrheit der EU-Staaten dafür ausgesprochen hat, das Kooperationsabkommen mit Israel auf den Prüfstand zu stellen. Sollte die Bundesregierung anders verfahren, wenn zum Beispiel Sanktionen gegen Israel oder ein Stopp von Waffenlieferungen auf den Tisch kommen?
Soweit ich informiert bin, liefern wir im Moment keine Waffen an Israel. Deutschland befindet sich Israels Sicherheit gegenüber immer in einer besonderen Rolle. Daran wird sich nichts ändern. Aber: Es darf keine Denkverbote geben, wenn es um die Wiederherstellung und Durchsetzung völkerrechtlicher Grundsätze geht. Maßstab bleibt für uns das Völkerrecht, auch in der Abwägung zukünftiger Entscheidungen.
Über die Gesprächspartner
- Matthias Miersch, Jahrgang 1968, ist Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag. Zuvor war der gebürtige Hannoveraner kommissarischer Generalsekretär seiner Partei. Miersch hat 1988 sein Abitur gemacht und im Anschluss Rechtswissenschaft studiert und darin promoviert. Seit 1990 ist er Mitglied der SPD. Dem Bundestag gehört Miersch seit 2005 an. Er zählt zum linken Flügel der SPD.