Der SPD-Mitgliederentscheid ist die letzte echte Hürde auf dem Weg zur Koalition von Union und Sozialdemokraten. Die SPD-Spitze warnt eindringlich vor den Folgen eines Scheiterns. Was denkt die Basis? Wir haben uns quer durch die Republik umgehört.
Die CSU hat dem Koalitionsvertrag schon zugestimmt. Die CDU wird ihn auf einem kleinen Parteitag am 28. April billigen. Ob eine Regierung von Union und SPD zustande kommt, liegt jetzt in der Hand von 358.000 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Bis 29. April können sie digital über den Koalitionsvertrag abstimmen.
Die Parteispitze sieht das Votum als bindend an, sofern sich mindestens ein Fünftel der Mitglieder an der Abstimmung beteiligt. Bei den SPD-Mitgliederentscheiden zur GroKo 2013 und 2018 stimmten 76 beziehungsweise 66 Prozent der Teilnehmer mit Ja. Eine Zustimmung gilt auch diesmal als wahrscheinlich. Doch unser Stimmungsbild zeigt: Viele SPDler ringen mit sich.
Ulrike Hora (38): "Wir brauchen eine Regierung ohne Skandale"
"Ich bin wahnsinnig unentschlossen. Was Frauenrechte und die Lebensumstände von Menschen mit Beeinträchtigung angeht, werden wir mit dieser Koalition nicht weiterkommen. Womöglich wird es sogar Rückschritte geben.
Daniel Wiegand (36): "Ich bin total enttäuscht"
"Nach dem Beschluss des Sondervermögens war ich positiv gestimmt. Ich arbeite bei der Bahn und weiß, was für ein Riesenproblem der Investitionsstau ist. Vom Koalitionsvertrag aber bin ich total enttäuscht. Ich hatte wenigstens ein oder zwei große Reformen zu den drängenden Themen erwartet – Klima, Rente, Pflege ... Stattdessen verteilt die Union teure Geschenke wie den subventionierten Agrardiesel oder den reduzierten Mehrwertsteuersatz in der Gastronomie. Paradoxerweise habe ich trotz allem mit Ja gestimmt. Ich sehe keine Alternative. Lieber eine stabile Regierung, die vier Jahre so weiterwurstelt, als Neuwahlen oder dass die Union sich von der AfD tolerieren lässt."
Desiree Sallwey (49): "Vorstoß zum Klimaschutz fehlt"
"Die Entscheidung macht mir Bauchweh. Ich weiß um die große Verantwortung in der momentanen Situation. Gleichzeitig: Bei den Plänen zur Migration kann ich eigentlich nicht mitgehen. Ich arbeite ehrenamtlich mit Asylbewerbern und sehe ihre Integrationsleistung. Viele arbeiten hier inzwischen als Busfahrer, Bäcker, Pfleger – die brauchen wir. Auch ein Vorstoß zum Klimaschutz fehlt mir. Der Fluss bei mir im Ort hat gerade einen Pegelstand wie sonst im Hochsommer. Und den Leuten mit kleinen Einkommen, von denen viele extrem gewählt haben, muss man doch was anbieten. Aber die CDU rudert bei Mindestlohn und Einkommensteuerentlastung jetzt schon zurück."
28,6 Prozent: So viel hat die SPD bei der Bundestagswahl im Wahlkreis Aurich-Emden geholt – fast zehn Prozentpunkte mehr als bundesweit und so viel, wie nirgendwo sonst in der Republik. Maria Winter engagiert sich dort für die Partei.
Maria Winter (58): "SPD hat einiges herausgeholt"
"Dafür, dass wir der deutlich kleinere Partner sind, haben die Verhandler der SPD einiges herausgeholt: Sieben Ministerien, darunter das wichtige Finanzministerium; und auch inhaltlich. Als Babyboomerin war für mich wichtig, dass das Rentenniveau nicht gesenkt wird und man nach 45 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen kann. Auch zur Familienpolitik sehe ich viel Positives: Alleinerziehende werden entlastet, der Kinderfreibetrag erhöht, Pflegeeltern sollen Elterngeld bekommen. Es steht einem natürlich frei, sich wie die Juso-Spitze anders zu entscheiden, aber ich finde es wichtiger, auf das zu schauen, was wir erreicht haben, als auf das, was fehlt."
Von einem Ergebnis wie in Emden können die Sozialdemokraten in Sachsen nur träumen. Das bundesweit schlechteste Ergebnis – sechs Prozent – fuhr die SPD im Wahlkreis Sächsische Schweiz/Osterzgebirge ein. Nicht viel besser sah es in der Heimat von Eric Holtschke aus: Vogtlandkreis, 8,8 Prozent.
Eric Holtschke (38): "Debatte zeigt, dass die SPD lebt"
"Ich habe mit Ja gestimmt. Als Stadtrat weiß ich, wie sehr die Kommunen finanziell unter Druck stehen. Der Koalitionsvertrag erkennt das an. Es wird die Devise festgeschrieben: Wer bestellt, bezahlt. Dass der Bund nicht länger Aufgaben auf die Kommunen abwälzt, ist für mich zentral. Ich bin froh, dass es das Votum gibt. Dass die SPD in die innerparteiliche Debatte geht, zeigt, dass sie lebt, auch wenn unser Stimmenanteil bei der Wahl nochmal geschrumpft ist. Den Zeitraum für den Mitgliederentscheid hätte man meinetwegen ruhig kürzer halten können, um die Regierungsbildung zu beschleunigen."
Die Juso-Führung ist der wohl größte innerparteiliche Kritiker des Koalitionsvertrags. "Unser Votum lautet Ablehnung", sagt Philipp Türmer, Vorsitzender der SPD-Nachwuchsorganisation. Die Verschärfungen in der Migrationspolitik will er nicht mittragen. Den Finanzierungsvorbehalt für alle Maßnahmen nennt er "eine tickende Zeitbombe". Türmer betont aber auch, dass die Entscheidung allen Jusos frei steht. Wir haben zwei von ihnen gesprochen.
Michelle Breustedt (31): "Kein Vertrag mit Wackelkandidat Merz"
"Ich werde definitiv mit Nein stimmen. Mit dem Kapitel über Migration bin ich total unglücklich und dass Merz die Erhöhung des Mindestlohns schon wieder infrage stellt, ärgert mich. Mit so einem Wackelkandidaten sollte man keinen Vertrag schließen. Die Parteispitze tut, als gäbe es keine Alternative. Dabei könnte man nachverhandeln. Oder Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung in Kauf nehmen. Ich bin überzeugt, dass man die AfD nicht klein bekommt, indem man Ja sagt zur CDU. Man muss das Problem lösen, dass viele Leute zu wenig Geld haben. Deshalb: Hohe Einkommen stärker besteuern, kleine entlasten, Mindestlohn rauf."
Simon Pladwig (20): "Schwer, der CDU zu vertrauen"
"Die SPD hat nicht schlecht verhandelt. Aber viele strittige Punkte wurden einfach offen gelassen. Und alles steht unter Finanzierungsvorbehalt. Dass die CDU jetzt schon den Mindestlohn und andere Punkte infrage stellt, macht es noch schwerer, zu vertrauen. Insofern verstehe ich gut, dass die Juso-Führung den Koalitionsvertrag so klar ablehnt. Aber an Nachverhandlungen glaube ich nicht und der Gedanke an eine Minderheitsregierung oder eine Koalition von Union und AfD gefällt mir gar nicht. Die Unterlagen liegen noch auf meinem Schreibtisch. Die Entscheidung fällt mir wirklich schwer."