Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) scheiterte bei der Bundestagswahl mit 4,97 Prozent knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Hinnehmen will das BSW das Wahlergebnis so nicht. Die Vermutung: Es gingen auf verschiedenen Wegen Stimmen für ihre Partei verloren.
"Ich beobachte seit Tagen erwachsene Menschen, die mir wie Assis in die Timeline kotzen, (...) wenn ich systematische und empirisch gehärtete Fehlerquellen in großen Datensätzen präzise darlege", schreibt BSW-Politiker Fabio De Masi vor einigen Tagen auf der Social-Media-Plattform X.
De Masi setzt sich seit Ende Februar maßgeblich für die Neuauszählung der Bundestagswahl ein. Seine Partei scheiterte mit 4,97 Prozent knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Akzeptieren will das BSW das Ergebnis offensichtlich so nicht: Am Dienstagnachmittag reichte die Partei Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein.
Einer der zentralen Vorwürfe, die De Masi auch auf X seit der Wahl immer wieder thematisiert: Mehrere tausend Stimmen sollen fälschlicherweise beim ähnlich lautenden rechtskonservativen "Bündnis Deutschland" (BD) eingetragen worden sein
Bundestagswahl: BSW-Politiker De Masi kritisiert Stimmauszählung
"Eine falsche Übertragung der Stimmen ist bei neuen Parteien, die weit unten auf dem Stimmzettel stehen, ein häufiger Fehler", sagt De Masi im Gespräch mit unserer Redaktion. Aufgrund des ähnlichen Namens sei eine falsche Übertragung der Stimmen recht wahrscheinlich.
Konkret vermutet das BSW zwischen 4.000 und 5.000 Stimmen, die auf diese Weise beim "Bündnis Deutschland" gelandet sein sollen. Doch das ist nicht die einzige Fehlerquelle, die die junge Partei gefunden haben will. Zum Hintergrund: Die Partei scheiterte letztlich an 13.400 Stimmen, die fehlten, um die Fünf-Prozent-Hürde zu erreichen. Sollten tatsächlich mehrere tausend Stimmen fälschlicherweise nicht beim BSW gelandet sein, könnte die Partei doch noch in den Bundestag einziehen.
Aber: Die Chancen für eine flächendeckend falsche Übertragung von BSW-Stimmen stehen eher gering. Dennoch hat der "Spiegel" in einer exemplarischen Auswertung für Berlin statistische Auffälligkeiten gefunden. So erhielt das BSW in fünf Wahlbezirken laut vorläufigem Ergebnis null Stimmen oder eine, das BD hingegen zwischen sechs und 31. Was einem Zweitstimmenanteil von bis zu 6,7 Prozent in diesen Bezirken entsprechen würde.
Auch die "Frankfurter Rundschau" hat die Daten der deutschen Wahlkreise untersucht und festgestellt: Während das BD bundesweit mit 79.000 Wählern 0,2 Prozent Stimmen holte, überzeugte die Partei in 43 Gemeinden mehr als 2 Prozent der Wähler. Solche Ausreißer sind zwar nicht ausgeschlossen, allerdings für das Gesamtergebnis der Partei unwahrscheinlich.

BSW-Europapolitiker De Masi unterstreicht seine These der falsch eingetragenen Stimmen mit den Erfahrungen aus der Europawahl. Hier bestand eine Diskrepanz zwischen dem vorläufigen Ergebnis und dem Endergebnis von BSW und "Bündnis Deutschland". Laut der Korrekturtabelle der Bundeswahlleiterin wurden dem BD 1205 Stimmen abgezogen, dem BSW hingegen zusätzliche 2808 zugeschlagen. Allerdings lässt sich hierbei nicht sagen, bei wie vielen Stimmen es sich um vertauschte Stimmen zwischen den beiden Parteien handelte.
De Masi: Falsche Übertragung nicht einzige Fehlerquelle
Zwar seien der Bundeswahlleiterin zur Europawahl keine Beschwerden diesbezüglich zugegangen, wie ihre Pressestelle auf Anfrage des "Spiegel" mitteilte – die Auffälligkeit zeigt jedoch, dass die Zweifel des BSW zur Bundestagswahl nicht völlig aus der Luft gegriffen sind.
De Masi kritisiert im Gespräch die Hürden, die Parteien überwinden müssten, wenn sie das Wahlergebnis überprüfen wollten. Denn Parteien müssten sich selbst beim jeweiligen Wahlkreis beschweren, sollten ihnen Diskrepanzen bei den Stimmen auffallen. "Um dagegen vorzugehen, muss uns das aber erst einmal auffallen", sagt De Masi. "Dazu benötigen wir die Daten der einzelnen Wahllokale."
Das sei allerdings nicht so einfach, denn einige Bundesländer würden diese zur Verfügung stellen, andere nicht. "Das ist ein riesiges Problem für uns. Denn so können wir nur Bruchteile der Daten auswerten und gar nicht überall, wo es seltsame Ergebnisse gibt, auf Überprüfungen drängen." Doch allein durch diese Stichproben habe seine Partei mehrere tausend Stimmen gefunden, bei denen es "extreme statistische Anomalien" gebe, sagt der BSW-Politiker. Das veranlasst ihn zu der Vermutung, dass es noch mehr Fehlerquellen gebe, durch die das BSW tatsächlich mehr Stimmen erhalten hätte, als im vorläufigen Wahlergebnis angegeben.
Laut De Masi könnte etwa auch der Knick im Wahlzettel in Einzelfällen für nicht abgegebene Stimmen gesorgt haben. Das BSW soll in einigen Bundesländern nicht nur direkt über dem BD gestanden haben, sondern auch unmittelbar auf dem Knick. Der Verdacht: einige potenzielle Wähler könnten die Partei nicht gefunden haben sollen.
Außerdem vermutet De Masi, dass einige Wahlzettel gänzlich falsch ausgezählt und für ungültig erklärt wurden, weil lediglich ein Kreuz bei der Zweitstimme gesetzt war. Diese Stimmen seien allerdings trotzdem gültig.
Ein weiterer Kritikpunkt des BSW: Im Ausland lebende deutsche Staatsbürger haben teilweise ihre Briefwahlunterlagen zu spät erhalten. Auch hier prüfe die Partei einen Einspruch, wie Gründerin und Namensgeberin
Staatsrechtler erklärt: So aussichtsreich ist eine Klage
Grundsätzlich kann jeder Wahlberechtigte, jede Gruppe von Wahlberechtigten oder auch die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) Einspruch gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl erheben. Ebenso die Wahlleitungen von Bund und Ländern. Das ist nach Wahlprüfungsgesetz bis zu zwei Monate nach dem Wahltermin möglich.
Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags muss dann eine Entscheidung fällen. Er gibt zunächst eine Empfehlung an das Plenum ab, das Parlament entscheidet letztlich über die Gültigkeit der Wahl. Nach jeder Bundestagswahl gehen Einsprüche ein, die werden allerdings in der Regel abgelehnt.
Wird die Wahl für gültig erklärt, kann eine Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt werden. Das Gericht prüft dann, ob das Wahlgesetz zutreffend angewendet worden ist.
Laut einer Schätzung des Auswärtigen Amts leben zwischen drei und vier Millionen Deutsche im Ausland. Davon sind allerdings nicht alle wahlberechtigt. Nach Angaben der Bundeswahlleiterin haben sich rund 210.000 in den Wählerverzeichnissen registrieren lassen.
Was ein Einspruch bezüglich der Auslandsdeutschen angeht, sieht Staatsrechtler Joachim Wieland wenig Chancen auf Erfolg, wie er dem "Handelsblatt" sagte. "Das Bundesverfassungsgericht wird die aktuelle Bundestagswahl nach meiner Einschätzung nicht beanstanden, weil es an der Mandatsrelevanz fehlen dürfte." Damit meint er den Umstand, dass jeweils nur Wahlfehler zu einer Ungültigkeit einer Wahl führen können, "die sich auf die Sitzverteilung im Bundestag ausgewirkt haben oder ausgewirkt haben könnten", wie es beim Bundesverfassungsgericht heißt.
Dass das BSW durch die Auslandsdeutschen, die nicht wählen konnten, 13.400 Stimmen zusammenbekommen würde, um die Fünf-Prozent-Hürde zu erreichen, ist also praktisch nicht vorstellbar.
Mit der Klage in Karlsruhe zugunsten einer Neuauszählung der Wahl hält sich das BSW nicht an die zweistufige Regel und betritt damit rechtliches Neuland. Der Erfolg: fraglich. Es ist wahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht noch diese Woche über die Eilanträge des BSW entscheiden, denn die Verkündung des amtlichen Endergebnisses ist für Freitag angedacht.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Fabio De Masi
- Spiegel.de: "Sind BSW-Stimmen systematisch verloren gegangen?" (Bezahlschranke)
- Frankfurter Rundschau: "'Statistisch sehr auffällig': BSW-Stimmen bei Bundestagswahl verwechselt? Das ist dran"
- Handelsblatt: "Was Staatsrechtler zur Wahlanfechtung sagen" (Bezahlschranke)
- X-Auftritt von Fabio De Masi