Rechtsextreme Straftaten häufen sich – die Täter sind immer öfter junge Menschen. Für den Autor Tobias Ginsburg sind diese Entwicklungen nicht neu. Er warnt: Um dem Rechtsruck entgegenzutreten, reichen Lippenbekenntnisse nicht aus.

Ein Interview

Die Berichte über rechtsextreme Jugendliche häufen sich: Eine Recherche des "Stern" hat die Gewaltbereitschaft jugendlicher Neonazigruppen aufgedeckt, in den vergangenen Wochen wurden mehrere rechtsextreme Vorfälle an deutschen Schulen öffentlich. Der Jahresbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz legt nahe, dass die Anzahl (gewaltbereiter) Rechtsextremer wächst.

Für den Autoren Tobias Ginsburg kommt diese Entwicklung nicht überraschend. Solche Einstellungen hätten kontinuierlich unter der Oberfläche der Gesellschaft geschlummert – jetzt habe der Rechtsruck "vieles wieder salonfähig werden lassen". Ginsburg recherchiert seit mehreren Jahren in der rechten Szene und schleust sich dafür unter anderem in Reichsbürgerstrukturen und rechtsextreme Netzwerke ein.

Herr Ginsburg, warum ist Rechtsextremismus wieder cool?

Tobias Ginsburg: Je größer die Diskursmacht der extremen Rechten ist, desto offener können sich Menschenfeinde zu ihren Überzeugungen bekennen. Dabei ist es schwer zu sagen, ob es wirklich so viel mehr Menschen sind, die jetzt nach rechts außen gedriftet sind.

Bestsellerautor Tobias Ginsburg
Investigativautor Tobias Ginsburg. © Jean-Marc Turmes

Wie meinen Sie das?

Der Rechtsruck hat vieles wieder salonfähig werden lassen – Unsagbares ist wieder sagbar, Unsichtbares wieder sichtbar. Sind die Leute also frisch radikalisiert oder bricht jetzt nur ihre Gesinnung ungeniert hervor? An so manchen Orten laufen Faschokids wieder in 90erjahre Naziklamotten, Springerstiefeln und Bomberjacke in der Gegend rum und in so manchen großen Zeitungen laufen rechtsradikale Parolen wieder als Meinungsartikel. Grundsätzlich haben diese Einstellungen in Deutschland kontinuierlich unter der Oberfläche geschlummert. Jetzt sind sie nur wieder sichtbarer, greifbarer, können ohne Konsequenzen rausgeplärrt werden – und werden dadurch natürlich gefährlicher.

In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Berichte über jugendliche Neonazi-Gruppierungen. Überrascht Sie diese Entwicklung?

Nicht wirklich, fanatische und faschistische Bewegungen konzentrieren sich immer extrem stark auf die Generierung von Nachwuchs. Man braucht eben tatkräftiges Menschenmaterial und junge, wütende Menschen sind oft leicht zu radikalisieren. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein, wenn wir im Bereich des Rechtsextremismus zu schnell von neuen Entwicklungen sprechen. Statistiken verändern sich auch dann, wenn wir vermehrt auf bestimmte Phänomene achten. Rechtsextreme haben sich in der Bundesrepublik über Jahrzehnte organisiert, rekrutiert und Gewalt ausgeübt. Nur passiert das nun in einer Schamlosigkeit wie lange nicht mehr.

Welchen Rolle spielt hierbei Social Media?

Social Media ist ein immenser Brandbeschleuniger für Radikalisierung. Was sehr unheimlich ist: Wir verdanken diesen Medien zum Großteil die Vereinheitlichung von Verschwörungsmythen, also, dass es vom Weißen Haus bis in den Kreml, von Polen über Deutschland bis nach Lateinamerika dieselben Verschwörungstheorien, Feindbilder und rechtsextremen Kampagnen gibt. Hinzukommt: Menschen können sich allein zu Hause vor dem Smartphone radikalisieren, sie müssen dafür nicht mal mehr rausgehen.

Warum können sich diese alten Glaubenssätze überhaupt so tief in die moderne Gesellschaft eingraben?

Sie waren nie weg. Wir haben uns einreden lassen, wir seien die Guten – ein entnazifiziertes Land, das aus der Vergangenheit etwas gelernt hat. Und dabei reden wir als Gesellschaft bis heute wahnsinnig wenig darüber, wie rechtsextreme Mechanismen funktionieren. Es wird immer damit abgetan, dass diese Menschen die Blöden oder Bösen sind, die intellektuell oder moralisch Defizitären – eine Anomalie. Und die andere Seite, das sind wir, die Guten. Mit diesem Trick konnte man wegschauen, die Augen vorm wiederkehrenden Faschismus verschließen.

"Die Brandmauer ist ein Problem und wir müssen dieses metaphorische Scheißding abreißen."

Tobias Ginsburg

So in etwa funktioniert die Idee der Brandmauer: Die eine Seite ist die demokratische Öffentlichkeit, die andere sind die Rechten.

Durch diese Erzählung müssen wir uns gar nicht damit auseinandersetzen, was oder wen genau wir überhaupt ablehnen. Wir haben Politiker im Bundestag – beileibe nicht nur bei der AfD – die rechtsradikales Gedankengut verbreiten. Die Bekämpfung von rechts ist wahnsinnig kosmetisch. Es ist alles so oberflächlich – und wie es aussieht, dringt rechtes Gedankengut wieder in alle möglichen Milieus vor. Viele Menschen bemerken nicht, was sie da wiederholen.

Wenn die Brandmauer nicht gegen den Rechtsruck hilft, was denn dann?

Lassen Sie uns kurz über die Brandmauer sprechen, ehe wir sagen: Die hilft eh nicht.

Gerne.

Die Brandmauer ist ein Problem und wir müssen dieses metaphorische Scheißding abreißen.

Das klingt nach einer steilen These.

Wir reden über dieses Lippenbekenntnis, seit die AfD so wahnsinnig, wahnsinnig stark geworden ist. Die bürgerliche Politik hat daraufhin gesagt: Wir haben eine Brandmauer, wir arbeiten mit denen nicht zusammen. Cool, man sollte nicht mit einer Partei zusammenarbeiten, die in Teilen faschistisch ist – stimmt. Aber es stellt sich die Frage: Wo genau steht dieses Ding eigentlich? Da wird es dünn.

Wie meinen Sie das?

Die Metaphorik hört in der Praxis schnell auf zu funktionieren. Das sehen wir im Europaparlament, wo bürgerliche Parteien und Parteienbündnisse mit extremen Rechten zusammenarbeiten. Das sehen wir, wenn unsere Politikerinnen und Politiker Rechtsextremen die Hände schütteln und sagen, wie gern man international zusammenarbeitet. Und wir sehen es an den Inhalten. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist völlig verständlich, dass die Leute nach den Enthüllungen zum Potsdamer Geheimtreffen massenhaft auf die Straße gegangen sind und sich eine Brandmauer erträumt haben.

Aber?

Das war ein Wunsch, eine Beschwörung. Wir bräuchten eine Brandmauer – aber die Menschen, die damals auf die Straße gegangen sind, würden diese Mauer an ganz unterschiedlichen Stellen verorten. Das ist, was ich eben bereits angesprochen habe: Wir haben nur die Behauptung, auf der einen Seite dieser metaphorischen Mauer stehen die Anständigen und auf der anderen die Unanständigen. Und das alles ist so moralisiert und hat so wenig mit Aufklärung zu tun, dass die Brandmauer zur Gefahr wird. Denn so lässt sich noch so rechte Politik legitimieren, wenn sie als eine Maßnahme gegen das Erstarken der Rechten verkauft wird. Das alles ist völlig inhaltsleer.

Ein Wir-gegen-Die reicht also nicht aus.

Es reicht nicht, zu klären, auf welcher Seite man steht – es geht um die Ideen, die sich durch die ganze Gesellschaft fressen. Wir reflektieren zu wenig darüber, welche Erzählungen und Glaubenssätze sich längst verfangen haben, weil wir eh safe seien. Wir können doch nicht die Bösen sein, denn die Bösen sind doch bei der AfD, meinetwegen bei der Werteunion, tragen Harrington-Jacken oder backen wie Tradwifes ihre eigenen Cornflakes auf Instagram.

"Heute sagen Rechtsradikale: 'Ja, ich bin Rechts, na und?' – und schon hat das liberale Bürgertum keine Argumente mehr."

Tobias Ginsburg

Brauchen wir eine neue Sprache, um Rechtsextremismus zu begegnen?

Auf jeden Fall. Wir können nicht ständig von der Existenz von Rechtsextremismus schockiert sein. Es muss darum gehen, rechtsextremen Akteuren und ihrer mörderischen Propaganda das Handwerk zu legen. Das geht sicher nicht, indem Medien einen grimmigen Typen mit Runen-Tattoo zeigen oder Martin Sellner (Anm. d. Red.: Ein rechtsextremer Aktivist aus Österreich) filmen und feststellen: "Oh mein Gott, der ist rechts". Das mag vor einigen Jahren noch als rhetorische Waffe funktioniert haben, aber die Zeiten sind vorbei. Heute sagen Rechtsradikale: "Ja, ich bin Rechts, na und?" – und schon hat das liberale Bürgertum keine Argumente mehr.

Wie kann man dem Rechtsruck dann entgegentreten?

Wir sind viel zu spät dran, um kompetent gegen das Erstarken der extremen Rechten – denn das tut sie bereits seit über 15 Jahren. Unsere Demokratien gehen in Zeitlupe in die Brüche. Wir sehen, dass Autokraten und Wiedergänger des NS immer weiter an Macht gewinnen – und dass die utopische Erzählung der Entnazifizierung nur so lange funktioniert hat, wie sich das Land in Richtung einer besseren Zukunft bewegt hat. Es reicht nicht mehr utopisch zu sprechen. Die Politik muss konkret werden.

Sie wollen mehr darüber sprechen, wie diese Strukturen funktionieren. Also: Wie funktioniert Faschismus?

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Menschen wandern nicht nach rechts ab, weil sie sich denken: "Ach, so ein neues KZ wäre doch schön." Das wäre eher der Endpunkt einer Logik aus Notwehr und Menschenverachtung. Vielmehr steht hinter der Zuwendung zum Rechtsextremismus oft die Sehnsucht nach einer perfekten Harmonie – nach der großen, perfekten Volksgemeinschaft. In der es keinen ständigen Streit gibt, weil es keine Widerworte gibt. Diese Harmonie entsteht dadurch, dass jeder weiß, wo sein Platz ist, und ganz oben der weise Führer oder liebe Gott. Für die meisten modernen Menschen klingt das gruselig, aber für manche ist das auch eine Entlastung. Das zweite Versprechen ist die Rückkehr in eine fiktive Vergangenheit.

Nämlich?

Im Faschismus steht immer die Erzählung eines mythologisch überladenen Urzustandes im Mittelpunkt: Die Sehnsucht nach einer fiktiven Welt, in der gestählte Arier auf blonden Schäferhunden durch den Wald reiten. Oder meinetwegen auch "Make America Great Again" – wo keiner wirklich weiß, wann Amerika eigentlich so "Great" war. Es muss alles vage bleiben. Dann funktioniert die Erzählung, dass in der Vergangenheit alles großartig und harmonisch war. Wären da nicht die blöden Feinde, könnte auch heute noch alles so toll sein. Das sind die Feinde von außen, die "volksfremden" Migranten und Globalisten, und die Feinde von innen. Die Wokies. Die eben, die alles kaputt machen wollen.

Sie schleusen sich als Autor immer wieder in rechte Netzwerke ein und sind dadurch sehr nah dran an vielen Entwicklungen. Was macht Ihnen trotzdem Hoffnung?

Ich bin kein hoffnungsvoller Mensch. Hoffnung und Zuversicht sind oft auch ein Narkotikum. Was mich zumindest ein bisschen hoffnungsvoll macht: Ich merke, Menschen werden wütend und wollen das Politikergeschwätz über Zuversicht und Unerschütterlichkeit nicht mehr hören. Wenn mir etwas Hoffnung macht, dann, dass das Geschwafel von Hoffnung abnimmt.

Über den Gesprächspartner

  • Tobias Ginsburg wurde 1986 in Hamburg geboren und hat an der bayerischen Theaterakademie der LMU München studiert. Für seine Bücher "Reise ins Reich" und "Die letzten Männer des Westens" hat sich der Autor undercover in rechtsextreme Netzwerke und Reichsbürgerstrukturen eingeschleust.