Das Morning Briefing von Gabor Steingart - kontrovers, kritisch und humorvoll. Wissen, über was politisch diskutiert wird. Heute: Warum Jens Spahn die in ihn gesetzten Hoffnungen aktuell leider nicht erfüllen kann.

Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
Jens Spahn ist aufgrund seines freundlichen, den Menschen zugewandten Wesens kein Politiker, der Wut oder Hass auf sich zieht. Im Gegenteil. Der Mann besitzt aus Sicht vieler Wähler einen Glaubwürdigkeitsbonus.
Der allerdings wird in diesen Tagen arg strapaziert. Das vorherrschende Gefühl, das den Gesundheitsminister derzeit begleitet, ist Enttäuschung. Von diesem jungen, politisch noch unverbrauchten Mann haben sich viele vieles versprochen. Und nun hat ausgerechnet er ernste Lieferschwierigkeiten.
1. Der Schutz der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe will ihm nicht gelingen. Der Wellenbrecher-Lockdown bricht die Welle nicht. Die Menschen in den Altersheimen und auch die vielen über 80-Jährigen, die in ihren eigenen vier Wänden leben, sterben derzeit wie die Fliegen. Zuletzt vermeldete das Robert-Koch-Institut regelmäßig über 1000 Corona-Tote pro Tag, 45.535 Deutsche sind bereits an oder mit dem Virus gestorben. Davon waren fast 70 Prozent 80 Jahre oder älter.
Corona: Ältere in Gefahr
Deutschlands Bevölkerung und Corona-Todesfälle nach Altersgruppen, in Millionen und Tausend
2. Die mit viel Tamtam angekündigte Corona-App – die Gesamtkosten sollen bis Ende 2021 bei 67,45 Millionen Euro liegen – erfüllt ihren Zweck nicht. Sie warnt vor Gefahren, die schon vorbei sind. Sie benennt Risiken, die sie nicht genauer spezifizieren kann. Gerade hier hätte ein Minister der Generation Start-up sein Meisterstück liefern können. Hat er aber nicht.
3. Die Impfstoffversorgung und der ihr vorangegangene Bestellvorgang sind ein Armutszeugnis für alle daran Beteiligten. Ausgerechnet der schwergängigen EU-Bürokratie hat man in dieser Frage von Leben und Tod die Federführung überlassen. Europa wird so nicht vorangebracht, nur diskreditiert. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
4. Massenhaft hat man Impfstoffe bestellt, die es gar nicht gibt. Weil sie über keine Zulassung verfügen. Das Ergebnis: Bei den verabreichten Impfungen pro 100 Einwohner liegt Deutschland mit einem Wert von 1 weltweit nur auf dem siebten Platz. Spitzenreiter ist Israel (24,5). Selbst das viel geschmähte Amerika des Donald Trump liegt mit einem Wert von 3,4 weit vor der Bundesrepublik.
Langer Weg zur Normalität
Impffortschritt in der Gesamtbevölkerung Deutschlands, in Prozent
5. Bei den über 80-Jährigen kamen bislang 207.992 Bürger in den Genuss einer Impfung. Zum Vergleich: Diese Altersgruppe umfasst hierzulande rund 5,9 Millionen Menschen. Das heißt, dass 96,5 Prozent dieser besonders gefährdeten Deutschen dem Virus weiterhin schutzlos ausgeliefert sind. In dieser Woche erst wurde ein 91-jähriger Pioneer-Leser in Hamburg vom zuständigen Gesundheitsamt abgewiesen, weil nicht ausreichend Impfstoff vorhanden sei:
In Niedersachsen behindert der Datenschutz den Versand von Impf-Briefen. Da die entsprechende Datenbank nicht vollständig ist, wird anhand der Vornamen das Alter geschätzt. Ältere Menschen, die nicht Herbert, Erika, oder Adolf heißen, müssen warten – womöglich bis zum Jüngsten Gericht.
6. Spahn sagt: Bislang machten nur zu wenige Bundesländer vom Angebot der bundesweiten Rufnummer 116117 Gebrauch, die sein Ministerium entwickelt hat. Gnade Gott, wer versucht über diese Hotline einen Impftermin zu ergattern. Hier glühen – je nach Bundesland – vor allem die Anrufbeantworter. Im Hintergrund hört man den Amtsschimmel wiehern.
7. Der Minister taktiert, indem er immer neue Daten für das Impf-Ende nennt. Erst wollte er jedem Bundesbürger noch in diesem Sommer ein Impfangebot machen. Am Mittwochabend bei "Maischberger. Die Woche" war der Sommer in den Herbst gerückt und eine nicht ganz unwichtige Einschränkung gab es auch:
Nachtigall, ick hör dir trapsen.
8. Und weil die Regierung letztlich ihrer eigenen Impfstrategie misstraut, wird die Bevölkerung auf den nunmehr dritten Lockdown eingeschworen. Dieser soll alle bisherigen an Härte übertreffen. Erwogen werden die Einstellung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, Homeoffice für fast alle und eine nächtliche Ausgangssperre. Thüringen hat bereits die Landtagswahlen verschoben. Die Grundrechte gelten, nur eben nicht mehr für alle.
Alle rhetorischen Kunststückchen haben Jens Spahn bisher nicht retten können. Die Fakten arbeiten stark gegen ihn. Das jüngste Elite-Panel des Allensbach-Instituts zeigt, dass derzeit nur 20 Prozent der Wirtschaftselite und nur sieben Prozent der politischen Elite sich Spahn als neuen CDU-Chef wünschen. So sehen Hoffnungsträger aus, deren Hoffnung nicht trägt.
Politikelite will Laschet
Antworten von 517 Führungsspitzen aus Wirtschaft und Politik auf die Frage: "Wen wünschen Sie sich als nächsten CDU-Vorsitzenden?" in Prozent**
Wirtschaftselite will Merz
Antworten von 517 Führungsspitzen aus Wirtschaft und Politik auf die Frage: "Wen wünschen Sie sich als nächsten CDU-Vorsitzenden?" in Prozent**
In der veröffentlichten Meinung steht Spahn mittlerweile im eisigen Gegenwind.
Eugen Brysch, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz, stellt frustriert fest:
Die Vize-Chefredakteurin der "SZ", Alexandra Föderl-Schmid, schreibt:
Melanie Amann, Leiterin des "Spiegel"-Hauptstadtbüros, sagt im Maischberger-Talk:
Der Ressortleiter Wirtschaft bei der "Welt", Olaf Gersemann, fasst das Geschehen spöttisch zusammen:
Fazit: Jens Spahn durchlebt im Moment das, was die Amerikaner eine "make or break situation" nennen. Bekommt er den Impfschlamassel in den Griff, kann er noch immer als Corona-Held in die Geschichtsbücher eingehen. Wenn nicht, beginnt für ihn das politische Siechtum.
Ich wünsche Ihnen ein Wochenende in heiterer Gelassenheit. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Gabor Steingart