Die Kriminalstatistik für das Jahr 2022, die nun vom Bundeskriminalamt veröffentlicht worden ist, zeigt: Durch Kinder und Jugendliche begangene Straftaten im digitalen Raum haben im Vergleich zum Vorjahr um 10 Prozent zugenommen. Zudem: Jeden Tag werden in Deutschland 48 Kinder Opfer sexualisierter Gewalt - in absoluten Zahlen für das gesamte Jahr: 17.437.
Die Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, hat am Dienstag neue Zahlen zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder vorgestellt. Mit 48 Fällen pro Tag ist das Ausmaß der Taten auch im Jahr 2022 dramatisch. Laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) bleibt die Zahl der Fälle auf einem konstant hohen Niveau.
Die Polizei zählte im vergangenen Jahr 17.437 Opfer sexualisierter Gewalt. Der Einfluss der Corona-Pandemie auf die Zahlen ist nicht eindeutig. Sie habe Tatgelegenheiten sowohl geschaffen als auch abgeschwächt, sagte der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, in Berlin.
Fünf Mal mehr Fälle bei Missbrauchsdarstellungen von Kindern
Auffällig ist die Zunahme der Darstellungen von Kindesmissbrauch. Im Jahr 2022 wurden 42.075 Fälle registriert, was einem Anstieg von mehr als sieben Prozent entspricht. "Betrachten wir die Zahlen der vergangenen fünf Jahre, so sehen wir eine Verfünffachung der Fälle", sagte der BKA-Präsident. Vor diesem Hintergrund sei eine Mindestspeicherung von IP-Adressen, also eine Art Vorratsdatenspeicherung, notwendig. "In vielen Fällen ist die IP-Adresse der einzige Ermittlungsansatz.“
Das sieht auch Bundesinnenministerin
Der Bundesjustizminister
Kinder teilen mit Handys Missbrauchsdarstellungen und jugendpornografische Inhalte
Laut PKS 2022 hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsabbildungen und jugendpornografische Inhalte besaßen, herstellten, erwarben oder insbesondere über soziale Medien verbreiteten, in Deutschland seit 2018 mehr als verzwölffacht: von 1.373 Tatverdächtigen unter 18 Jahren im Jahr 2018 auf 17.549 Tatverdächtige (davon 5.553 Kinder unter 14 Jahren und 11.996 Jugendliche über 14 Jahren) im Jahr 2022.
Die meisten tatverdächtigen Minderjährigen handelten nicht vorsätzlich oder sexuell motiviert, so die Missbrauchsbeauftragte Claus, sondern aus digitaler Naivität: Vermeintlich coole Bilder oder Clips würden mit Musik, Geräuschen, Texten oder Animationen versehen und tausendfach weitergeleitet. Dass es sich dabei um Darstellungen sexueller Gewalt handelt, werde oft nicht verstanden.
Die derzeitige Ausgestaltung des § 184b StGB als Verbrechen - also als Straftat mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe - erschwere den Umgang mit dem Phänomen. Denn bei Kindern mit Smartphones handele es sich gerade nicht um "klassische" Straftäterinnen und Straftäter, sondern um Minderjährige, die Missbrauchsdarstellungen teilten, mit denen sie in der digitalen Welt massenhaft und ungefiltert konfrontiert würden.
Statt bestraft, sollen Kinder und Jugendliche aufgeklärt werden
Der Fokus auf strafrechtliche Konsequenzen sei der falsche Ansatz: "Hier braucht es (medien-)pädagogische Ansätze: Kinder und Jugendliche müssen in die Lage versetzt werden“, so Claus, "das Material klar als sexuelle Gewaltdarstellungen einzuordnen und ihr eigenes Handeln und das ihrer Peer Group zu hinterfragen.“ Hier seien vor allem Eltern und pädagogische Fachkräfte gefragt.
Derzeit binde die Strafverfolgung in diesen Fällen enorme Ressourcen bei Polizei und Staatsanwaltschaften, die dann für die Verfolgung der klassischen kriminellen Täterkreise fehlten, die solches Material herstellen oder auch mit kommerziellen Interessen verbreiten. Der Strafparagraf müsse daher rasch angepasst werden, fordert die Missbrauchsbeauftragte. "Ziel muss sein, dass eindeutig ausbeuterische Taten zu Lasten von Kindern oder Jugendlichen weiterhin mit hohen Strafen geahndet werden, gleichzeitig aber Fälle mit geringem Unrechtsgehalt frühzeitig eingestellt werden können.“
Medienkompetenz allein könne und dürfe aber nicht die einzige Antwort auf Gewaltphänomene im Netz sein, so Claus. Es sei absurd, wenn in der "realen Welt“ festgelegt werde, welche Räume Kinder und Jugendliche ab welchem Alter nutzen dürfen und welche ihnen aus guten Gründen verschlossen bleiben - die Gesellschaft aber gleichzeitig Kinder und Jugendliche in der digitalen Welt weitgehend schutzlos lasse.
Claus: Plattform-Anbieter müssen Risiken minimieren
Überall dort, wo sich Kinder und Jugendliche aufhielten, müssten Risiken identifiziert und der notwendige Kinder- und Jugendschutz durch Schutzkonzepte konsequent umgesetzt werden. Genau das sei der Kern der EU-Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Diesen Kern gelte es nun bestmöglich und rechtskonform umzusetzen. So sollen Anbieter verpflichtet werden, die Risiken ihrer Plattformen und digitalen Angebote für minderjährige Nutzer kontinuierlich zu identifizieren. Ebenso müsse dafür gesorgt werden, dass Kinder altersgerecht vor Gewaltdarstellungen oder auch einer möglichen Ansprache durch Täter geschützt werden.
Kritisch sei auch, dass zum Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche keine validen Aussagen möglich seien. Es fehlten Daten über tatsächliche Gefährdungslagen, Tatorte und Tatkontexte sowie darüber, ob und wie Präventionsmaßnahmen oder Hilfsangebote wirken.
Notwendig seien daher regelmäßige Erhebungen zum Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Nur so könnten Handlungsfelder priorisiert und Veränderungen frühzeitig erkannt werden. Claus fordert in diesem Zusammenhang eine nationale Strategie zur Erhebung dieser Zahlen. "Wir brauchen dringend ein eigenes Zentrum für Prävalenzforschung.“
Zu den veröffentlichten Zahlen von kindlichen Gewaltopfern erklärte Denise Loop, Obfrau im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen: "Wir alle müssen besser hinschauen und zuhören. Gewalt gegen Kinder findet oft im engsten Umfeld statt." Es brauche mehr Aufklärung, auch im digitalen Raum, und ein hohes Problembewusstsein in der Bevölkerung.
Eine "Verrohung unserer Kinder" sieht dagegen die CDU/CSU. "Die Bundesregierung muss dringendst gegensteuern und mehr Ressourcen in Prävention und effiziente Strafverfolgung geben", sagte die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dorothee Bär, unserer Redaktion.
Weniger getötete Kinder im Jahr 2022
Die Zahl der getöteten Kinder ist insgesamt rückläufig. Im Jahr 2022 fielen 101 Kinder einem Tötungsdelikt zum Opfer, im Vorjahr waren es 145. Die überwiegende Mehrheit der getöteten Kinder war jünger als sechs Jahre. Auch bei der Misshandlung von Kindern verzeichnete die Polizei einen Rückgang um 2,4 Prozent auf 4.281 Opfer.
Münch verwies darauf, dass es sich bei den gemeldeten Fällen lediglich um das sogenannte Hellfeld handelt: "Taten, die von der Polizei unentdeckt geschehen, bleiben im Dunkelfeld.“
Verwendete Quellen:
- Bundespressekonferenz am 23. Mai
Wenn Sie selbst von häuslicher oder sexueller Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich bitte an das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" - 08000/116 016 oder dessen Online-Beratung, das Hilfetelefon "Gewalt an Männern" - 0800/1239900 oder dessen Online-Beratung, oder an das Hilfetelefon "Sexueller Missbrauch" 0800/225 5530 (Deutschland), die Beratungsstelle für misshandelte und sexuell missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder (Tamar) 01/3340 437 (Österreich) beziehungsweise die Opferhilfe bei sexueller Gewalt (Lantana) 031/3131 400 (Schweiz).
Wenn Sie einen Verdacht oder gar Kenntnis von sexueller Gewalt gegen Dritte haben, wenden Sie sich bitte direkt an jede Polizeidienststelle.
Falls Sie bei sich oder anderen pädophile Neigungen festgestellt haben, wenden Sie sich bitte an das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden".
Hilfsangebote für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.